Todesfalter
sorgsam gefaltet, die Beine angezogen. Er war tot.
»Mama, kommst du jetzt?«
»Ja, ich …« Mehr brachte Maria nicht heraus. Sie nahm den Falter so vorsichtig auf, dass auch im Tod der feine Staub auf seinen Flügeln nicht zerstört wurde, und legte ihn unter einen Glassturz. Wie immer würde sie ihn präparieren müssen, aufspießen, einrahmen. Noch ein paar Kronen mit ihm als Präparat verdienen. Sie würde vernünftig sein müssen. Weitermachen. Wie sie es stets hielt. Aber ihre Bewegungen waren mechanisch, und sie wusste kaum, was sie tat.
»Maaaama!«
Als Maria dem Ruf endlich gehorchte, bekam sie kaum mit, wie ihre Füße sie in die Schlafkammer trugen.
»Mama?«, fragte die Kleine, die aufrecht im Bett saß, die Zöpfe straff geflochten, die Beine untergeschlagen und in den Augen keine Spur von Müdigkeit, während die Magd auf dem Schemel am Ofen schon beinahe eingenickt war. »Mama, bist du ein böses Mädchen?«
Maria Sibylla erschrak. Vergebens sagte sie sich, dass niemand auf der Welt wissen konnte, was sie getan hatte. Hilflos schaute sie sich um, als wäre in den Ecken des Raumes eine Antwort verborgen. Dann sah sie einen Brief unter der Lampe liegen und seufzte vor Erleichterung.
»Hat die Großmama wieder geschrieben?«, fragte sie und ließ sich auf der Bettkante nieder, um nach dem eng bekritzelten Bogen zu greifen.
»Ja, an mich«, verkündete Lenchen stolz.
Das Schreiben bot wenig Neues. Marias Mutter, die noch in Frankfurt lebte und nach wie vor so ziemlich alles missbilligte, was ihre Tochter tat, mit Ausnahme vielleicht der Hausarbeit, mischte sich regelmäßig in langen Briefen in Lenchens Erziehung ein. Sie vertrat traditionelle Ansichten, die da besagten, dass Schläge einem Kind nicht nur nicht schadeten, sondern sogar nötig waren, weil sie seinen Stolz brachen, ihm Gehorsam und Schmiegsamkeit beibrachten, damit es seinen Platz im Leben fand, sein rohes Temperament zähmten. Deiner Mutter hätte man damals auch besser den Hintern verdroschen, stand da etwa. Bei der Sache mit den Tulpen war Vater viel zu nachsichtig. Und was haben wir jetzt davon?
Eine Malerin, eine Kupferstecherin, eine Forscherin, hätte Maria bis vor Kurzem geantwortet. Jetzt aber flüsterte es in ihrem Kopf: eine Ehebrecherin. »Ja«, gab sie zu und errötete, »ich war mal ein böses Mädchen. Ich habe gestohlen.«
Lenchen riss die Augen auf. Also erzählte Maria die Geschichte, wie sie damals im Garten eines Adligen diese teure, seltene Tulpe abgerupft hatte, damit sie die Blume in ihrem Dachstübchen heimlich als Vorlage benutzen konnte. Sie wollte doch wahrheitsgetreu nach der Natur stechen. Noch einmal glühte in ihr wie damals das Empfinden auf, im Recht zu sein, nur das Beste zu wollen. Ganz anders als bei ihrer heutigen Verfehlung. Und doch, wie gerne würde sie sich auch dazu mit derselben Inbrunst bekennen. Aber das ging nicht, nicht vor Lenchen, nicht vor ihrer Mutter, vor niemandem auf der Welt. Niemand würde Verständnis dafür aufbringen. Durfte sie es dann selbst?
»Und was ist passiert?«, fragte Lenchen mit angehaltenem Atem. Sie hatte vor einigen Wochen einmal einen Straßenjungen am Pranger stehen sehen, der gestohlen hatte. Er war nur wenig älter als sie selbst, und das hatte sie sehr beschäftigt.
»Der Besitzer kam natürlich und beschuldigte mich«, erklärte Maria. »Ich hatte es wohl nicht sehr klug angestellt. Als er erfuhr, wozu ich die Blume gebraucht hatte, ließ er sich meine Bilder zeigen und meinte endlich, wenn ich sie ihm als Entschädigung überließe, würde er von einer Anzeige Abstand nehmen.«
»Da hast du aber Glück gehabt.« Lenchen sah erleichtert aus.
Maria nickte. Sie dachte an den Klumpen in ihrem Bauch damals und wie er sich in Stolz und Glück gewandelt hatte. Und sie erinnerte sich wieder an die Stimme ihres Vaters, der voll Anerkennung gemeint hatte, aus ihr könne etwas werden und sie dürfe von jetzt an in der Werkstatt arbeiten. So hatte sie den Grundstein für ihre Karriere gelegt; alles war gut geworden. Die Mutter allerdings hatte darin den Anfang von allem Übel gesehen.
Im Licht der letzten Ereignisse fragte Maria sich jetzt, ob ihre Mutter nicht doch vielleicht recht hatte, ob da etwas in ihr steckte, das damals hervorgebrochen war und jetzt mit Moretti aufs Neue, etwas, das sie bekämpfen musste. Denn diesmal würde niemand ihr Tun gutheißen und ihr zum Lohn einen Platz in einer neuen Welt anweisen.
»Heißt das, manchmal darf man doch
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