Todesfalter
ausgebreitet, eine offenbar schon viel gebrauchte Vorlage für ein Gebinde aus Narzissen, das sie mit der Nadel auf Stoff zu kopieren suchte.
»Mal die Blüten nicht zu groß«, wies Maria sie an, die ihr eine Weile bei der Arbeit zusah. »Es ist nicht nötig, von der Wahrheit abzuweichen, um sie schöner zu machen. Es genügt, wenn du die Stängel ein wenig anders neigst, schau, so.« Sie skizzierte es mit ein paar Kreidestrichen auf dem Stoff. »Schon sieht alles hübscher aus, ohne dass man lügen müsste.« Sie lächelte Magdalena aufmunternd an.
Aber deren Gesicht blieb düster, sie schaute kaum auf, tat den nächsten Stich, verletzte sich am Finger und schrie unwillig auf.
»Soll es das jetzt gewesen sein: Jungfernhaut und Narzissen?«, fragte Dorothea. »Im Ernst? Dabei dachte ich, der Stuckateur ginge dich doch ein wenig was an.«
»Wie?«, fuhr Maria Sibylla auf und konnte nicht verhindern, dass ihr die Hitze in die Wangen stieg. »Was sollte mich der Italiener angehen? Ich meine«, wandte sie sich rasch an Barbara, »was meint dein Vater damit, wenn er sagt, er glaubt dem Itaker kein Wort?«
Das Mädchen fühlte sich geschmeichelt ob der Aufmerksamkeit. Sie stand nicht oft im Mittelpunkt des Kreises. »Moretti, also der Italiener, sagt, dass er die Beata nicht näher gekannt hat und dass er’s nicht war.«
»Natürlich nicht«, entfuhr es Maria. Als sie die Blicke der Mädchen bemerkte, fügte sie hinzu: »Das sieht jeder objektive Beobachter. Eine einfache Frage der Menschenkenntnis.« Sie verzichtete darauf festzustellen, von wem das einsetzende Kichern kam.
»Die Hebamme besteht aber drauf«, fuhr Barbara mit roten Wangen fort. »Papa will ihn deshalb noch einmal hochnotpeinlich befragen lassen.«
»Er kommt unter die Folter?« Maria Sibylla konnte nur flüstern.
Für einen Moment sah sie die Lochgefängnisse vor sich, diese Löcher ohne Tageslicht und Wärme. Der Ort war berüchtigt in weitem Umkreis als eines der schlimmsten Gefängnisse überhaupt. Wenn der »Lochwirt«, wie der Vorsteher genannt wurde, seine »Gäste« wieder entließ, waren sie oft so krank, dass sie nie mehr auf die Beine kamen. Sie konnten sich, nachdem ihre Unschuld erwiesen war, ihres Lebens oft nur ebenso kurz erfreuen, als wären sie verurteilt worden. Wer dorthin kam, egal, wie es ausging, der war gezeichnet.
Maria Sibylla sah Carlos Gesicht vor sich, so voller Kraft und Lebendigkeit. Im Geist sah sie die Narben, die sie zwar bemerkt, nach deren Ursprung sie aber nicht gefragt hatte. Sie hielt ihn für einen Mann, der schon viel erlebt haben musste und der seine Kämpfe auszufechten verstand. Aber im Loch war der Gegner übermächtig: Dunkelheit, Kälte, Schmutz, Hunger und Angst nagten da an den Insassen wie die Ratten, die dort zu Hause waren. Und dann kam die Folter.
Barbara nickte ernst. »Er wird ihn heute noch in der Kapelle vernehmen.« Sie schlug das Kreuzzeichen. »Kapelle«, so nannten sie in der Stadt seiner Form wegen den Raum, in dem der Henker aktiv wurde. Es war ein Gottesdienst besonderer Art.
»Aber, aber …«, stotterte Maria, »wenn er die Wahrheit gesagt hat?«
»Ich glaube, das nimmt Papa sogar an. Aber er will auf Nummer sicher gehen. Erst eine Aussage unter der Folter hat die nötige Beweiskraft.«
»Ist das so?«, murmelte Maria Sibylla, die aus dem Fenster sah und ihren Atem unter Kontrolle zu bringen suchte.
»Gewiss, meinst du nicht?«, fragte Clara.
Zum Erstaunen aller schüttelte Magdalena den Kopf und gab zur Antwort: »Wenn Mama mir früher gedroht hat, mich mit der Haarbürste zu verdreschen, hab ich immer das gesagt, was sie hören wollte.«
»Sie hat dich mit der Haarbürste geschlagen?«, fragte Barbara nach, die selbst in solchen Fällen nur die blanke Hand kannte.
»Das ist doch nicht der Punkt, Barbe«, rüffelte Dorothea sie. An Magdalena gewandt fragte sie: »Woher wusstest du denn, was sie hören will?«
»Das weiß man doch«, gab Magdalena zurück. »Das weiß man immer. Oder? Und die Wahrheit war es in den seltensten Fällen.«
Die Mädchen dachten nach. »Ja, aber was wird dann aus der Wahrheit?«, fragte Clara schließlich. Wieder schauten alle die Frau an, die sie gelehrt hatte, sich für die Welt, so wie sie war, zu interessieren.
Maria Sibylla holte tief Atem. »Gut, kümmern wir uns gemeinsam darum«, sagte sie.
15
Susanna erklärte sich bereit, mit ihrem Vater, dem Leiter einer Künstlerakademie, über den italienischen Stuckmeister Moretti zu
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