Todesfalter
sich nicht wie ein Landmann oder Handwerker, sondern hatte den runden Rücken der Gelehrten, die sich tagaus, tagein über Bücher beugen. Seine Haut war unrein und fahl, seine Bewegungen waren fahrig. Insgesamt wirkte er wie ein Kranker, so, als stecke in dem mächtigen Körper ein morsches Inneres, das jederzeit in sich zusammenbrechen könne. Sein Händedruck allerdings strafte diese Einschätzung Lügen. Maria atmete innerlich auf, als er ihre Finger endlich wieder aus dem Schraubstock seines Griffes entließ.
»Der Herr Heuchlin ist wegen mir hier«, verkündete ihre Tochter stolz und reckte sich.
»Wie darf ich das verstehen?« Maria Sibylla ließ sich dem Diakon gegenüber nieder.
Johann Leo Heuchlin war erst seit einem Jahr an Sankt Sebald; er hatte weder Johanna Helena getauft noch sonst in irgendeiner Weise bisher mit dem Hause Graff zu tun gehabt. Er räusperte sich hinter erhobener Hand, sodass Maria Sibylla die Tintenflecken auf seinen Fingern bemerken konnte. Richtig, erinnerte sie sich, es hieß, er fertigt in seinen Nachtstunden Gedichte an. Sogar ein Mitglied des Ordens der Pegnitzschäfer soll er sein, in dem die Ärzte und Apotheker, die Lehrer und Magister, die reichen Witwen und jungen Anwälte der Stadt sich treffen, um Verse zu schmieden und sie einander in ihren Gärten vorzutragen. Blumennamen geben sie einander dort. Maria erinnerte sich weiter, dass der Apotheker Stöberlein sich vor zwei Jahren bei seinem Beitritt Polyanthus Piloselle genannt hatte. Seine Frau hatte sie zu dem Ereignis gebeten, einen Satz Servietten mit dem entsprechenden Blütenmotiv zu bemalen, und schwärmte noch immer bei jedem Treffen davon, wie waschfest die Farben doch seien. Welchen Namen Heuchlin sich wohl gegeben hatte? Sie dachte flüchtig darüber nach, kam aber auf keinen, der geeignet klang; er schien ihr wie fahles Zunderholz.
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sprang in den Augen des Mannes ein Funke auf. »Ich leite seit einiger Zeit die Katechismus-Schule der Kirche. Und mir ist zu Ohren gekommen, dass Eure Tochter, obwohl im richtigen Alter, noch immer nicht angemeldet ist. Ich habe sie noch nie in meinen Unterrichtsräumen gesehen. Das kleine Ding«, setzte er hinzu und fasste Johanna Helena am Arm, die ihn erstaunt ansah.
Irgendetwas gefiel Maria Sibylla nicht. Sie blieb aber ruhig, da sich im Gesicht ihrer Tochter keine Abneigung zeigte.
»Ich hatte in den letzten Wochen so viel zu tun, bitte entschuldigt«, begann sie. »Natürlich werde ich …«
»Mir ist auch zu Ohren gekommen, dass es bei Euch im Haus Dinge zu hören und zu sehen gibt, die der jungen, ungeformten Seele eines unschuldigen Kindes nicht zuträglich sind.«
Maria richtete sich auf. »Ich habe keine Idee, was das sein sollte«, sagte sie und verfluchte innerlich die Nachbarinnen. Bislang hatte sie die Leute tratschen lassen. Aber es war wohl an der Zeit, die eine oder andere zur Rede zu stellen. Sie als ungeeignete Mutter hinzustellen, das ging nun wirklich zu weit. »Wenn Ihr auf meine Beschäftigung mit Faltern anspielt, so kann das Kind hier nur etwas lernen über Gottes schöne Natur und wie sie gemacht ist.«
»Gemacht ist sie in sieben Tagen, das steht in der Bibel zu lesen. Und mehr, mit Verlaub, Gräffin, hat ein gutes Christenkind darüber auch nicht zu wissen. Alles Weitere führt nur zu Eitelkeit und Hochmut und falschem Denken. Insbesondere, wenn man sich mit teuflischem Getier abgibt, das den lieben Gott verhöhnt, indem es sich aus Schlamm und Schmutz selber zeugt.«
»Falter schlüpfen aus Raupen.« Maria war so wütend, dass sie nicht mehr herausbrachte. »Aus Raupen«, wiederholte sie. »Nicht aus Schlamm. Das könnt Ihr mit Euren eigenen Augen sehen, die Gott Euch geschenkt hat.«
Heuchlin hingegen hatte den Blick bereits von ihr abgewandt. Stattdessen sah er Johanna Helena, die er noch immer fest im Griff hatte, tief in die Augen und fragte in dem falschen Ton, mit dem Erwachsene sich gerne Kindern zuwenden: »Nun, meine Kleine, hast du denn Jesus im Herzen?«
Lenchen, die über die inneren Organe von ihrer Mutter bereits das eine oder andere gelernt hatte, schaute unsicher zu Maria hinüber, nickte dann aber.
»So schlage das Kreuzzeichen, mein Kind.«
Lenchen tat es gehorsam. Aber sie tat es mit links. Maria biss sich auf die Lippen. Wie oft hatte sie dem Kind den Griffel, den Löffel oder das Brennglas schon in die Rechte gedrückt! Immer wieder machte die Kleine es falsch; selbst wenn sie mit
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