Todesfalter
sie hatte beim besten Willen nicht die Zeit dazu.
Sie fand Lenchen mit Anna in der Apfelkammer, wo sie fröhlich und unter Gesang dabei waren, die angefaulten Früchte auszulesen, die sie ausschneiden wollten, um Mus daraus zu kochen. Mit klopfendem Herzen blieb Maria Sibylla im dunklen Flur stehen und schaute den beiden eine Weile zu, lauschte ihren knappen Gesprächen und dem Gelächter. Beruhigt stellte sie fest, dass der Sturm, der in ihrem eigenen Inneren noch immer tobte, sich hier längst gelegt hatte.
Gut so, dachte Maria nicht ohne Neid, hier konnte sie nichts tun, allenfalls etwas verderben. Selbst noch lange nicht getröstet, riss sie sich endlich los und stieg die Stufen hinauf, um sich bei der Arbeit ein wenig Ruhe zu verschaffen.
17
»Also, mein Paps hat wieder einmal keine Ahnung«, stellte Susanna fest und warf ihre Zöpfe über die Schultern. »Alles Mögliche hat er mir erzählt: wo der Meister Moretti schon gearbeitet haben soll, welche Palais er ausgestattet hat und mit welchen Motiven. Aber von Liebschaften oder Saufgelagen oder anderen interessanten Dingen – davon weiß mein lieber Vater nichts. Na ja«, entschuldigte sie ihn nach kurzem Überlegen. »Der Moretti ist ja auch ein Italiener und soll gar nicht in das Lexikon der deutschen Künstler, das mein Paps verfassen will.«
»Und von den Deutschen dann wird das Interessante aber in dem Lexikon festgehalten, ja?«, neckte Dorothea sie.
»Weißt du, für sechzehn bist du ganz schön verdorben«, stellte Barbara fest, mit einem schnellen Blick zu Maria, ob diese sie jetzt wegen ihrer gestern so gekonnt geheuchelten Unschuld aufziehen würde. Aber die Malerin wirkte abwesend.
»Das hat unsere Magd auch gemeint.« Susanna sah sich stolz um. »Also habe ich zu unserer Martha gesagt, ›Ich erzähle Paps das mit dir und dem Gerbergesellen, wenn du nicht mitkommst zu dem Gasthaus.‹«
»Zu welchem Gasthaus?«, fragte Clara stirnrunzelnd.
Susanna schaute sie mit ihren großen Augen unschuldig an. »Na zu dem, wo die Italiener wohnen. Der Stuckateur ist ja nicht alleine gekommen.«
»Du bist … gute Güte, Kind. Wenn das dein Vater erfährt.« Jetzt wurde Maria Sibylla doch aufmerksam und hob den Kopf von der großen Zeltbahn aus Leinwand, an der sie malte.
Susanna grinste. »Glaubst du, Maria, der Herr Sandrart nimmt dich dann nicht mehr in sein Lexikon auf?«
»Nein – aber Kind, so ein übel beleumundetes Lokal!«
»So übel ist es gar nicht«, stellte Susanna richtig. »Es ist nicht mal eine echte Wirtschaft. Tatsächlich logieren sie bei einer Witwe in der Schottengasse im Elisabethviertel, ganz ordentlich, wenn ihr mich fragt. Meine Martha kannte die gute Frau sogar. Und als ich das mit dem Gerbergesellen noch mal klarstellte, hat sie sich sehr lange und ausgiebig mit ihr unterhalten. Also …«, sie holte Atem und schaute in die Gesichter ihrer Freundinnen: Maria hatte die Stoffbahn sinken lassen, auf der sie soeben ein paar Schlüsselblumen anbrachte. Dorothea beleckte ungerührt das Ende eines grünen Garnfadens, Bärbel dagegen saß vorgeneigt da, das Gesicht in beiden Händen, Magdalena hatte die Füße zu sich auf den Schemel gezogen und umarmte ihre Knie. Sie rührte ihr Stickzeug nicht an und schaute aus dem Fenster. Das Sonnenlicht ließ dessen gelbliche Butzenscheiben aufleuchten und verfärbte das Blau ihres Halstüchleins grün. Alles in allem erschien Susanna der Aufmerksamkeitspegel ausreichend zu sein. »Sie wohnen da im ersten Stock in drei Zimmern, zu acht, und sie gehen selten aus. Kochen sich unten in der Küche ihr eigenes Essen und bleiben unter sich, sagt die Witwe. Bringen kaum Besuch ins Haus, wenn, sind’s Reisende aus Italien. Sollte einer von ihnen in die Frauenhäuser gehen, so weiß sie davon nichts. Aber auch in dem Fall sind sie zeitig wieder daheim. Sie mögen kein Bier, und sie mögen den deutschen Wein nicht, und sie haben Heimweh.«
»Ach«, sagte Dorothea enttäuscht, die sich das Künstlerleben, vor allem das italienische, spannender vorgestellt hatte.
»Ja«, pflichtete Susanna ihr verständnisinnig bei. Und doch hatte sie bei ihrem Besuch gestern das Glück, dass ein glutäugiger junger Mann in die Küche kam und ihr einen durchaus befriedigend feurigen Blick zuwarf. »Das ist der Bruder des Verdächtigen«, hatte die Witwe ihr wispernd erklärt. Susanna hatte einen Blick zurückgeworfen und den Jungen dann mit vorsichtiger Verachtung gestraft. Mit jüngeren Brüdern gab sie sich
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