Todesfalter
normalerweise nicht ab. Immerhin schickte jemand nach einem Krug Wein, und man sang noch eine Weile beim Feuer, deutsche Lieder und fremde im Wechsel. Sogar die Wangen der melancholischen Wirtin röteten sich im Lauf des Abends, und Susanna dachte schließlich, dass es nicht schadete, kleine Brüder zumindest eine Zeit lang im Schein der Glut mit Seitenblicken zur Kenntnis zu nehmen. Als sie ging, küsste er ihre Hand wie ein Galan … Sie konnte es jetzt, am darauffolgenden Tag, immer noch auf der Haut fühlen. Angelegentlich betrachtete sie ihre schmalen Finger mit den gepflegten Nägeln. »Fazit ist«, erklärte sie geziert, »man kann sich dort nicht vorstellen, dass der Herr Stuckateur mit solchem Vorstadtgeschwärtl wie der Hebamme und ihrer Tochter herumzieht.«
Dorothea fiel ihr ins Wort: »Ja, genau.« Ihre Aufgabe war es gestern, das »Geschwärtl vor den Mauern« zu überprüfen. Nun berichtete sie von ihrem Ausflug nach Johannis, der sie zunächst zum Friedhof führte. Sie wollte das Grab Beatas aufsuchen, um als kleine Geste einen Strauß Blumen darauf abzulegen, den sie unterwegs gepflückt hatte. Es waren die ersten Blumen überhaupt, die die frisch aufgeworfene Erde zierten. »Ach, ehe ich es vergesse«, sagte sie jetzt und zog ein Spanschächtelchen aus ihrer Rocktasche. »Die habe ich dort, wo ich die Blumen gepflückt habe, an ein paar Brombeerranken gefunden.«
Alle ließen ihre Arbeit liegen, um sich vorzuneigen, als Maria vorsichtig den Deckel der Schachtel hob.
»Iiiih, die hat Stacheln«, rief Barbara, die den Faltern deutlich mehr zugetan war als den Raupen.
Eingehend betrachtete Maria Sibylla das dornige Tier mit den silbernen und weißen Längsstreifen. »Ich denke«, sagte sie nach einer Weile, »es könnte einer von den Gelblichen draus schlüpfen. Ihr wisst schon, die ins Braune und Orangefarbene hinüberspielen, heller am Flügelansatz und weiter draußen dann ein Schimmer von Lila.« Sie hatte unwillkürlich mit der freien Hand zu skizzieren begonnen und entwarf mit schnellen Strichen das zarte Tier, die grazilen Beine, die Fühler, den bepelzten Leib und die Zunge, die sich elegant ringelte. Die Flügel aber leuchteten wie Kirchenfenster. »Ich nenne sie Perlmutterfalter, weil die Farben so ineinanderfließen«, beendete Maria ihren Vortrag. »Vielen Dank, Dorothea.«
»Na, wenn dich das schon freut.« Dorothea rückte geziert ihre schwarzen Locken zurecht. »Dann bin ich mal gespannt, was du zum Rest sagen wirst.« Sie schaute herausfordernd in die Runde. »Beatas Mutter«, begann sie, »stand natürlich nicht am Grab.« Sie machte eine längere Kunstpause, die sie erst unterbrach, als Clara mit ihren Fingernägeln auf dem Stuhl zu trommeln begann. »Die hockte zu Hause, gramgebeugt vom Inhalt eines Kruges mit Schnaps, der schon fast leer war. Bei ihr ein Kerl, dem ich lieber nicht im Dunkeln begegnen möchte.«
Die Mädchen drangen in sie, den Mann näher zu beschreiben.
Dorothea lehnte sich zurück. »Ich sage nur, der Geruch ist unvergesslich.«
»Och, komm. Jetzt sei nicht so!« – »War er groß und dunkel?« – »Hatte er Narben?«
Dorothea musste zugeben, dass er eher klein war und sein Haar vermutlich rötlich gewesen wäre, hätte er es einmal gewaschen. »Sein Gesicht war glatt, vom Schmutz abgesehen, und seine Augen waren schwarz und hart wie Kiesel und guckten einen so seltsam an. Ich sag euch, der hat so brutal ausgesehen, auch ganz ohne Narben. Den brauchte man nur anzuschauen und wusste sofort, der könnte einem alles antun, und es würde ihn nicht scheren.«
Maria Sibylla wusste, dass Dorothea nicht leicht zu beeindrucken war, und hörte ihr aufmerksam zu. »War es ihr Mann?«, fragte sie.
»So etwas Ähnliches«, meinte Dorothea und hob die Brauen.
»Wieso? Was ist denn etwas Ähnliches?« ,fragte Bärbel ahnungslos und musste sich dafür auslachen lassen.
Dorothea tätschelte ihren Arm. »Sagen wir mal so: Ich nehme nicht an, dass der Pfarrer diesen Bund gesegnet hat, mein liebes Kind.«
»Ach so.« Bärbel schmollte. »Das weiß ich doch längst.«
»Umso schlimmer«, stellte Maria Sibylla fest und griff wieder zu ihrer Stoffbahn. Aber irgendwie war ihr nicht nach Schlüsselblumen. »Und was wolltest du uns nun eigentlich erzählen mit deiner Schauermär, Dorothea? Meinst du, der Mann kommt als Täter infrage?«
Die junge Malertochter beschloss, endlich zur Sache zu kommen. »Die Hebamme ist betrunken gewesen und hat über das Schicksal im
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