Todesfalter
Metamorphose abgeschlossen sein würde und sie alles mit Stift oder Pinsel festhalten könnte. Annas Proteste gegen den Geruch waren damals ungehört verhallt. »So ein Unfug«, log Clara mit so viel Überzeugungskraft, wie sie aufbrachte. »Ist es das, worüber sie sich da drüben das Maul zerreißen?« Und sie wies mit dem Kinn zu den versammelten Nachbarinnen und Mägden.
In dem Mann mitten unter ihnen erkannte nun auch sie den Diakon von Sankt Sebald. Als sie den Eindruck hatte, er bemerke sie und fasse sie direkt ins Auge, senkte sie leicht grüßend den Kopf.
»Die sagen, sie lässt ihre Tochter nicht in den Katechismus-Unterricht.« Der Junge feixte.
»Das wünschst du dir wohl für dich selber«, entgegnete ihm Clara. »Du würdest doch auch lieber schwänzen und Leute anschwärzen als die Gebote auswendig lernen.« Sie neigte sich ein wenig weiter hinaus. »Du kannst dem Herrn Diakon ausrichten, Johanna Helena lernt den Katechismus als Gefährtin meiner kleinen Nichte, auf besonderen Wunsch meiner Familie. Am besten tust du’s gleich.« Sie richtete sich auf, verfolgte mit den Blicken, wie der Junge mit seinen schmutzigen nackten Füßen hinüberhüpfte und zog, als sie sicher war, dass ihre Botschaft ankam, langsam die Fensterflügel zu. Im Geiste notierte sie, ihre Tante um den entsprechenden Gefallen zu bitten. Sie stutzte, als sie im letzten Moment eine Frauensilhouette um die Ecke schlüpfen sah, ehe sie das Fenster schloss. Nein, sagte sie sich und widerstand der Versuchung, noch einmal hinauszusehen: Das konnte nicht Maria Sibylla gewesen sein. Wo sollte sie auch hingehen?
19
Maria Sibylla Merian hatte vergeblich Trost gesucht, wo sie ihn sonst zu finden pflegte: in der fünfbändigen Naturgeschichte, die ihr Vater einst geschaffen hatte, einem Werk mit fast dreitausend Abbildungen, die so soldatenhaft gerade standen wie ihre eigenen naturnah und anmutig waren. Sie hatte zerstreut in dem Blumenbuch ihres weitläufigen Verwandten de Brys geblättert, auch in der Metamorphosis insectorum von Jan Goedart, die als die Bibel ihres Forschungsfaches galt. Seit Neuestem aber griff sie am liebsten zu ihrem geheimen Schatz, einem Buch zweier Reisender in die Neue Welt, die aus Brasilien berichteten und den beiden Indien. Sie schilderten die dortige Natur, Pflanzen wie Tiere, in Worten und Bildern, die Maria Sibylla wieder und wieder in ihren Bann zogen. Dort musste es Schmetterlinge geben und Insekten, gegen die sich hier alles zwergenhaft ausnahm, langweilig und klein. Und Farben hatte es dort, als habe Gott zeigen wollen, was er wirklich konnte.
Nürnberg zu erforschen, Franken zu erforschen, das hieß eben nur den kleinsten Teil der Schöpfung gesehen zu haben. Wie viel hatte sie von den Hesperidengärten der Familie Imhoff erwartet – und war doch enttäuscht worden! Jetzt hoffte sie auf eine Einladung in die berühmten Volkamer’schen Gärten. Dort würde es ebenfalls exotische Pflanzen geben, sollten darauf auch wieder keine exotischen Tiere leben? Die Hoffnung damals war vergebens gewesen, ebenso wie ihr Versuch, ihren inneren Frieden wiederzufinden, indem sie einfach weitermachte.
In ihr war eine Furcht aufgegangen, die wuchs und wuchs: dass sie ihr Leben mit der Lupe über Büchern verbringen würde, zwischen Küche und Atelier auf kleinstem Raum, eingeengt durch ihre Ehe, ihre Rolle als Frau, die Bestimmungen der Handwerkerordnung, die Launen der Patrizier und deren Kunstgeschmack. Carlo hat recht, hatte sie in diesem Moment gedacht, er allein hat es gesehen und erkannt. Es ist etwas in mir, das nicht in das übliche Schema passt. Eines Tages aber breche ich vielleicht wirklich auf und dann …
Da ihr die geliebten Bilder in den Büchern heute tot erschienen waren, hatte es sie nicht im Haus gehalten. Unbemerkt von ihrer Jungfern-Companie, die ihr sonst lieb und recht aber heute einfach unerträglich war, schlich Maria sich aus dem Haus und stürmte durch die Gassen. Rennen, einfach nur laufen. Ach, wenn man allem davonlaufen könnte. Aber man wurde nur angestarrt, wenn man es versuchte.
Sie mäßigte ihre Geschwindigkeit, um nicht aufzufallen, und stellte fest, dass sie wieder auf dem Obstmarkt stand. Hier war sie zuletzt mit ihm gewesen. Hier hatte er sie angesehen mit seinen schwarzen Augen und ihr Dinge zugeraunt, die ein Mann zu einer fremden Frau nicht sagen sollte. Alleine stand sie zwischen all den Kiepen voll frischer Kräuter, den Körben mit Kohl und Rüben vom Vorjahr und all
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