Todesfalter
trotz der Wärme heute. Maria fragte sich, ob die anderen es ebenso sahen wie Anna, ob tatsächlich der kalte Schatten der Toten wie ein böses Omen auf ihrem Haus lag.
»Ich werde mich umziehen, Anna. Bitte hol mir das Barchentkleid heraus, mit dem ich immer zu Imhoffs gehe.«
»Aber …«, wandte die Magd ein. »Er hat gesagt: unverzüglich.«
Maria Sibylla bemühte sich um ein Lächeln. »Dafür wird es schon noch reichen, Anna. Ich will doch nicht wie eine Landstreicherin aussehen.« Oder als würde ich damit rechnen, von dort direkt ins Loch zu wandern, ergänzte sie im Stillen. Einen Moment lang musste sie sich selbst in Erinnerung rufen, dass sie gar nicht wirklich ein falsches Geständnis für den Italiener abgelegt hatte, nicht laut vor allen Leuten. Und dass jetzt nicht die Schergen kamen, da sie den Ehebruch ja nicht wirklich begangen hatte, nur in ihrem Herzen. Maria war außer Atem, als sie im Schlafzimmer ankam. Sie trat an die Truhe und holte den Spiegel heraus, den Andreas ihr zur Hochzeit geschenkt hatte, ein schönes Stück mit einem Griff aus getriebenem Silber, zwei Putten hielten das Glas, von Blumen umrankt. Viel zu teuer, wie all seine Geschenke, aber damals wusste sie das noch nicht. Sie hängte ihn an einen Nagel an der Wand und holte aus der Truhe das Intarsien-Schächtelchen, das sie von ihrer Mutter erhalten hatte und diese wiederum von ihrer. Es war aus Sandelholz, aber inzwischen so alt und durch so viele Hände gewandert, dass es nur noch nach den Kräutern duftete, die Anna zwischen die Laken legte, um Ungeziefer fernzuhalten. Mit vorsichtigen Fingern nahm Maria Sibylla ihr Ohrgehänge heraus und steckte sich ein Stück nach dem andern an. Die Perlen zitterten unter ihren Händen. Im ersten Moment kühl, dann rasch erwärmt schmiegten sie sich an ihre Wangen. Maria wandte den Kopf hin und her, die eigenen, ernsten Augen fest im Blick.
Sie war nicht schön. Sie war nicht mehr jung. Man sah ihr die Sorgen an. Aber da war noch etwas anderes. Carlo hatte es ein wildes Herz genannt. Sie kannte es selbst noch nicht, dieses verborgene Ich, wusste noch nicht, was es wert war. Maria wollte ihm zulächeln, doch sie schaffte es nicht. Stattdessen kam ein Aufschluchzen über ihre Lippen, und sie schlug rasch die Hand vor den Mund. Als sie Annas Schritte sich nähern hörte, wischte sie sich energisch über die Wangen und wandte sich mit Schwung um. »Danke«, sagte sie unnötig laut. »Komm, hilf mir mit der Schnürung.« Sie stieg in das voluminöse Kleid, das sie mit seinem weiten Rock, dem engen Oberteil und den gebauschten Ärmeln umgeben würde wie einen Kämpfer sein Harnisch. Gerüstet, so fühlte sie sich jedes Mal, wenn sie es anzog. Gerüstet mit Wohlanständigkeit, modischem Genügen und ein wenig Weiblichkeit. Sie zupfte an den Ärmeln herum, bis sie sich aufstellten. Anna holte die Spitze aus dem Halskragen und an den Manschetten hervor. Diese war nur schmal, aber von guter Qualität, abgeschnitten vom Brautkleid ihrer Mutter.
»Mein Bettelkleid«, sagte Maria und verzog das Gesicht. Dies war der Aufzug, in dem sie in die großen Bürgerhäuser ging, um ihre Aufwartung zu machen. Im Grunde genommen, um nach Aufträgen zu fragen – ihre Gastgeber wussten es so gut wie sie. Um zu betteln, dachte sie voll Verachtung, wenn auch darüber niemand ein Wort verlor und man ihr gewürzten Wein aus den eigenen Kontoren vorsetzte und die neuesten Anschaffungen vorführte, damit sie als Künstlerin ihre Meinung dazu abgab.
»Keine Sorge.« Sie tätschelte Anna, die vor Sorge ganz klein aussah, die Wange. »Er wird nur noch einmal schriftlich festhalten wollen, was ich gehört und gesehen habe, als ich die Leiche fand. Das gehört zum ordentlichen Prozess. Ich bin ja nicht angeklagt, Annchen.«
»Geb’s Gott«, murmelte die Alte.
»Maria!« Das war Andreas. Die Tür schlug an die Wand, so heftig trat er ein. Unwillkürlich zuckte Maria Sibylla zusammen. Sie nahm ihr durchscheinendes Umschlagtuch und drapierte es mit bebenden Händen über ihr vom Kleid halb frei gelassenes Dekolleté. Die Schleife, mit der es vor dem Hals gebunden wurde, wollte und wollte ihr nicht gelingen.
»Vorsicht!«, rief sie, als Andreas sie bei den Schultern nahm.
»Was hast du getan?« Seine Stimme war dramatisch.
Unwillig schüttelte Maria seinen Griff ab. »Ich?«, fragte sie und versuchte das Beben ihrer Stimme zu verbergen. »Ich soll etwas getan haben?«
Er zwang sie, sich umzudrehen. »Ich arbeite und
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