Todesfee
Bláth gefallen und sie damit eine reiche Frau geworden.«
Fidelma stellte ihr leeres Glas hin und erhob sich.
»Der Mond ist aufgegangen. Ich werde in seinem Licht nach Cashel zurückkehren.«
»Du bleibst nicht bis zum Morgengrauen? Die Nacht ist voller Gefahren.«
»Nur von Menschen gemachten Gefahren. In der Nacht erwachen die Dinge zum Leben, die Nacht ist ein guter Ratgeber. Mein Lehrer, Brehon Morann, sagt, dass in der Nacht die Weisheit mit den Sternen zum Zenith der Gedanken emporsteigt und alle Dinge sichtbar werden. Die Nacht ist die stille Zeit der Kontemplation.«
Sie standen auf der Schwelle von Bruder Abáns Haus.
Fidelmas Pferd war an die Tür gebracht worden. Als Fidelma aufsteigen wollte, ertönte aus dem Tal ein seltsamer, schauriger Klagelaut. Er erhob sich schrill und klar in den Nachthimmel, schwoll an und riss abrupt ab, erhob sich wieder und erstarb dann. Es hörte sich an wie die
caoine
, die Klagelaute, die die Toten begleiteten.
Bruder Abán bekreuzigte sich rasch.
»Die Todesfee!«, flüsterte er.
Fidelma lächelte.
»Das kann jeder auslegen, wie er will. Ich höre nur den einsamen |205| Ruf eines Wolfes, der eine Gefährtin sucht. Doch ich gebe zu, dass jede Tat Konsequenzen hat. Bláth hat für ihr Verbrechen die Todesfee heraufbeschworen, und vielleicht hat die Todesfee jetzt das letzte Wort.«
Sie stieg auf ihr Pferd, hob die Hand zum Gruß und lenkte das Tier auf die mondbeschienene Straße nach Cashel.
|206| DER THRONFOLGER
»Das gibt Ärger. Denk an meine Worte!«
Brehon Declan war voll düsterem Pessimismus. Er ging mit Schwester Fidelma langsam über den Haupthof der Festung von Cúan, dem Stammesfürsten der Uí Liatháin, zur großen Festhalle. Auch viele andere hatten sich in der fortschreitenden Abenddämmerung bereits dorthin aufgemacht.
»Das verstehe ich nicht«, antwortete Fidelma. Ihr Weg zum an der Küste gelegenen Kloster in Ard Mór hatte sie durch das Gebiet der Uí Liatháin geführt, einem der größeren und einflussreicheren Clans im Königreich Muman. Daher hatte sie beschlossen, ihren alten Kollegen Declan zu besuchen, der mit ihr bei Brehon Morann Rechtswissenschaft studiert hatte. Bei ihrer Ankunft im
rath
, der Festung der Uí Liatháin, war alles in großer Aufregung gewesen. Der Thronfolger des Stammesfürsten war bei einer Hirschjagd verwundet worden und gestorben; nach der vorgeschriebenen Trauerzeit sollte der Clan jetzt einen neuen
tánaiste
wählen, der dem Stammesfürsten zu gegebener Zeit auf den Thron folgen sollte. »Das verstehe ich nicht«, wiederholte Fidelma. »Ist denn Talamnach, der Kandidat, den der Fürst für das Amt vorgeschlagen hat, so unbeliebt, dass man gegen ihn stimmen wird?«
Auf dem hageren Gesicht von Declan, einem dunklen, düsteren Mann, erschien ein schwaches Lächeln. Er schüttelte den |207| Kopf. »Du weißt doch gewiss, dass die Wahl eines
tánaiste
, des Nachfolgers des Stammesfürsten, problematisch sein kann. Mindestens drei Generationen der Herrscherfamilie müssen in einer Versammlung ihre Stimme für ihn abgeben. Dabei bilden sich immer Fraktionen, und was der einen Gruppe passt, passt der anderen nicht, obwohl sie derselben Familie angehören.«
Fidelma schniefte missbilligend.
»Cicero hat schon vor Jahrhunderten über den
bellum domesticum
geschrieben, den Familienstreit. Das ist nichts Neues.«
»Du hast sicher recht«, räumte Declan ein, »aber jetzt, da Cúan seinen Neffen Talamnach als Kandidat für seine Nachfolge aufgestellt hat, ist der Streit in seiner Familie besonders heftig entbrannt.«
»Und warum?«
»Erstens ist Cúans Sohn Augaire darüber, gelinde gesagt, nicht glücklich. Er ist neunzehn Jahre alt, hat aber in seiner jugendlichen Arroganz erwartet, selbst
tánaiste
zu werden. Das Gleiche gilt für seine Mutter Berrach – ich meine, sie war auch davon ausgegangen, dass ihr Sohn für das Amt in Frage käme. Und es heißt, sie hat ihrem Ehemann gegenüber mit ihrem Missmut nicht hinter dem Berg gehalten.«
»Es ist nicht ungewöhnlich, dass eine Mutter für ihr Kind Ambitionen hat.«
»Was die Zukunft ihres Sohnes betrifft, ist Berrach besonders hartnäckig. Sie verhätschelt ihn und liest ihm jeden Wunsch von den Augen ab. Jetzt ist er ihr über den Kopf gewachsen und überhaupt nicht mehr unter Kontrolle zu bringen.«
Fidelma lächelte milde.
»Weißt du noch, was Aristoteles geschrieben hat? Dass Mütter ihre Kinder deswegen hingebungsvoller lieben und größeren Ehrgeiz
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