Todesfessel - Franken-Krimi
Jahren hatte er sie nicht mehr geöffnet. Doch ihr Inhalt, er wusste es auf Anhieb, war immer noch pures Dynamit. Er streckte eine frisch manikürte Hand aus, zog mit spitzen Fingern ein altes Heft mit fleckig braunem Einband heraus.
»Mein Tagebuch« , in bemühter Schönschrift mit dem Schulfüller, darunter, mit dickem schwarzen Filzstift: »Wer das liest mus sterben!« , dreifach unterstrichen, und ein Totenschädel mit gekreuzten Knochen.
»8. April. Mein 9. Geburtstag. Mein schlimmster Geburtstag. Mama tut nur herumschreien und Papa tut kofferpacken. Ich muss dauernd weinen. Weil sie meinen geburtstag vergesen haben und dauernd so laut streiten. Jetzt bin ich wider eingespert weil mein pipi in die Hose gegangen is. Immer wenn ich schrei und an die Tür haue macht Mama die Musik im Wonzimmer ganz laut. Ich krich unter meine Bettdecke und halt mir die ohren zu. Das klavier ist so kalt und bös. Es will in meinen Kopf krichen. Aber da solls nicht rein bittebitte geh wider raus das wünsch ich mir so sehr heut ist doch mein geburtstag.«
Er ließ das Heft fallen und fuhr sich über die Augen. »Nein … nein …«, flüsterte er, »bitte nicht, bitte nie, nie, mehr …«
Zu spät.
Ping … pingpingping … ping …
Qualvoll stieg ein Klavierton in seiner Erinnerung hoch … Brutales, nervenzerfetzendes, rechthaberisches Geklimper; kalt, seelenlos und abgrundtief böse:
Pingpingpingping … piingg!
* * *
Charly schlug den Mankell wieder zu. Die Schwanen-Szene hatte ihm, trotz der naheliegenden Ballett-Assoziation, nicht die erhofften Inspirationen gebracht. Er wollte den Krimi gerade ins Regal zurückstellen, als ein seltsames Lesezeichen aus dem Buch rutschte, fast so breit wie eine Postkarte. Ungewöhnlich. Und überflüssig obendrein: Eselsohren sind viel sicherer und reichen doch völlig aus … Neugierig zog er die Karte heraus.
Ein paradiesischer roter Sonnenuntergang. Mit Valeries Konfirmationsspruch:
»Und nähme ich Flügel der Morgenröte
Und bliebe am äußersten Meer
So würde auch dort deine Hand mich führen
Und deine Hand mich leiten.«
(Psalm 139, 9–10)
Schwermütig, fast sehnsüchtig atmete er durch. Er spürte, wie eine seltsam spontane Erleichterung in ihm aufstieg. Nicht zum ersten Mal, wenn er unerwartet auf ein Bibelzitat stieß. Vielleicht hatte die Großmutter in Buch am Forst deshalb so oft darin gelesen …
»Und nähme ich Flügel der Morgenröte
Und bliebe am äußersten Meer
So würde auch dort deine Hand mich führen
Und deine Hand mich leiten.«
Nein, das Problem selbst war dadurch nicht vom Tisch. Ann-Sophie blieb verschwunden, blieb in akuter Lebensgefahr – wenn sie überhaupt noch am Leben war. Doch sein Blickwinkel änderte sich. Die lähmende Anspannung wich neuem Ansporn.
Unwillkürlich ballte er die Faust. Ann-Sophie musste …
Satisfaction.
Er fuhr zusammen. »Anruf Barbara«, las er verblüfft.
»Ja?«
»Bist du … bist du auch noch so wach?«
»Nee.«
»Aha.« Stille. »Kann ich … kann ich hochkommen?«
»Was? Du stehst unten vorm Haus? Komm rauf.«
Er drückte den Summer. Scheiß-Bademantel, schnell was überziehen, sie musste vier Stockwerke hoch, gerade lang genug für Jeans und weißes T-Shirt.
»Hi.«
Charly erschrak. Die sonst so selbstbewusste Bayerin stand mit hängenden Schultern vor ihm. Unnatürlich blass, ihre Augen leicht gerötet.
»Hi.« Die Andeutung eines Lächelns, ein kleiner Fingertipp auf seinen Unterarm. Langsam ging sie an ihm vorbei ins Wohnzimmer. Ein Hauch »Christina Aguilera« schwebte in der Luft, vermutlich schnell noch im Auto aufgetragen … Angeregt folgte er ihr. Sie setzte sich auf die Couch, schlug die langen Beine übereinander. Die muss fünfzig Paar schwarze Pumps haben, dachte Charly, jeden Tag wie neu, auf Hochglanz poliert.
»Koan Sex«, sagte sie brüsk. »Koan Sex!«
Charly ärgerte sich. Was bildete sich die g’scherte Bayerin eigentlich ein, nachts um dreiundzwanzig Uhr zehn in seiner Wohnung …
»Keine Angst, Baby«, provozierte er sie. »Hab mir schnell noch einen runtergeholt, als du die Treppe hoch bist … War das schon alles? Oder gibt’s auch was Neues?«
Sie schwieg. Blickte mit ihren schwarz bewimperten großen Augen ausdruckslos in die Ferne. Draußen dröhnte gerade der letzte Stadtbus den Ölberg hoch.
»Ann-Sophie lebt«, sagte sie leise. »Ich bin mir sicher. Er hat sie in seiner Gewalt, aber sie lebt noch. Und dieses Gefühl lässt mir keine Ruhe, ich bin den ganzen
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