Todesflirt
Schwarz-Weiß-Foto zu sehen, das ein düster qualmendes Gebäude, vielleicht ein Kaufhaus, zeigte, davor eine von Schutt übersäte Straße, darüber Rauchschwaden. Im Vordergrund fliehende Menschen, deren schicke helle Garderobe im krassen Gegensatz zu der Zerstörung rings um sie herum stand. Ein Bild aus dem Zweiten Weltkrieg, keine Frage. Mich fröstelte. Und als ich den Text auf der Rückseite las, fror ich gleich richtig. Da stand:
»Komm und hilf mir! Bitte, bitte, bitte! Sie bedrohen mich. Sie sagen, sie wissen alles, und wenn du nicht sofort kommst, bringen sie mich um. Und dich finden sie auch und bringen dich auch um. Außerdem vermisse ich dich so – viele Küsse von deiner Luisa!«
Entsetzt ließ ich die Karte sinken. Ich weiß nicht, wie lange ich bewegungslos auf das Bild der Erdkugel starrte. Wie bei einem Vexierbild schoben sich zwei Wörter im raschen Wechsel in meinem Kopf hin und her: umbringen und Küsse. Küsse und umbringen. Ich merkte, wie meine Hände zitterten, wie mein Nacken schmerzte vor Anspannung. Ich wäre am liebsten losgelaufen, aber ich konnte ja nicht. Wo war David? Ich stand so schnell auf, wie es ging, und riss den Kleiderschrank auf. Er war fast leer. Nirgends ein Koffer oder ein Tasche. Ein paar Hemden, ein paar Winterpullover, etwas Unterwäsche, Schlafanzüge, einige Handtücher. Ob etwas fehlte? Keine Ahnung! Wo war nur der Junge mit den türkisblauen Augen und den blonden Locken hin, dem ich letzte Woche mein Herz anvertraut hatte? Mir liefen Tränen über die Wangen. War er fort? Für immer? Wer war Luisa? Ich dachte die Fragen leise. Ganz leise, verzagt. Sie türmten sich bedrohlich und wolkenkratzerhoch vor mir auf. Was sollte ich nur tun? Toni hätte gesagt, der kommt schon wieder, mach dich nicht verrückt, reg dich nicht auf, dafür gibt es sicher eine ganz banale Erklärung. Aber sie war es ja auch nicht, die verliebt war, so verliebt wie noch nie zuvor …
Vielleicht sollte ich hier hinausgehen, die Tür für immer schließen, Max sagen, er habe einen Albtraum gehabt, alles sei wieder wie früher, und nie mehr an David denken. Nie wieder. Ich versuchte, mir selbst ins Gesicht zu hauen. Was dachte ich da für dummes, kindisches Zeug. Ich musste David finden, ich musste ihn zur Rede stellen. Er würde spüren, dass er mir vertrauen kann, ich könnte ihm helfen, ihm beistehen, wir würden diese Leute, die Ganoven, die ihn umbringen wollten, der Polizei ausliefern. Ich … würde … ihn … retten. Das war mir auf einmal ganz klar. Da führte kein Weg dran vorbei. Vielleicht hatte er diese Luisa verlassen, so wie ich Max. Aber wenn ich dann vielleicht nur eine Ablenkung war, ein billiger Ersatz? Wer weiß, was er mit diesem Mädchen alles durchgemacht hatte, was sie verband?
Tabea, sagte ich mir schließlich. Du gehst jetzt heim. Hör auf. Geh morgen zur Arbeit und schau, ob er da ist. Und dann REDE mit ihm.
Langsam erhob ich mich. Die Postkarte steckte ich zurück in den Umschlag und den schob ich unter die Schreibtischauflage. Alles sah aus wie zuvor. Dann humpelte ich zur Tür. Als ich sie öffnete, wehte die warme Luft des alten Tages mir entgegen. Der Schweiß brach mir aus. Ich zog die Tür zu und mühte mich die Treppen hinauf. Kaum stand ich auf der Straße, kam der Bus.
Und noch eine schlaflose Nacht. Mein Gesicht sah grau aus, als ich am nächsten Morgen in den Spiegel blickte. Essen konnte ich nichts. Meine Eltern und Annika erklärten mich für verrückt, als ich sagte, ich würde ab heute wieder arbeiten, aber ich ging gar nicht darauf ein. Wie gut war es, 18 zu sein. Statt mit dem Fahrrad fuhr ich mit dem Bus, der Weg von der Haltestelle zum Kindergarten war zwar nicht ganz nah, aber ich ließ mir Zeit. Auch die Schneider staunte, als sie mich sah.
»Mir ist daheim die Decke auf den Kopf gefallen«, log ich und grinste sie an. Sie winkte mich herein und sagte in der ihr eigenen strengen Art: »Aber dann machst du heute nur Sachen im Sitzen. Ich will dich nicht mit den Kindern herumspringen sehen. Verstanden?« Ich nickte und sah mich unauffällig um. Jessica und Regine fuhrwerkten bereits in unserer Kreisel-Gruppe herum, die Flummi-Gruppe war noch geschlossen und Sabine und Marion beaufsichtigen die Frühkinder beim Frühstück in der Lego-Gruppe. Alles ganz normal.
»Ist David schon da?«, fragte ich Jessica beiläufig, doch Regine antwortete:
»Nein und gestern war er auch nicht da.« Ich hoffte, keiner bemerkte, wie blass ich
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