Todesflirt
wurde.
»Vielleicht brauchen sie ihn in der Tübinger Straße«, überlegte Jessica. »Da ist wohl auch eine Erzieherin krank geworden.«
Ich brauchte dringend einen Vorwand, um in der Hauptstelle des Vereins anzurufen. Jetzt schon erschöpft, setzte ich mich auf den kleinen Drehstuhl in der Kreisel-Gruppe. Die Kinder beugten sich über Stifte, Papier, Kleber und Schere und waren auf das Malen und Ausschneiden kleiner bunter Häuser konzentriert. Wie sehr sie sich in eine Sache vertieften. Ich versuchte, ihnen zu helfen, aber es ging heute einfach nicht. Wie fand ich nur heraus, wo er war?
Schließlich kam die Schneider in den Raum und tuschelte mit Jessica. Ich verstand nur Wortfetzen, aber die waren eindeutig.
»Keiner weiß was … Telefonisch nicht zu erreichen … Nicht die geringste Spur.« Und wenn er doch in einem Krankenhaus lag? Verletzt, allein? Ich musste raus hier, ich musste die Krankenhäuser durchtelefonieren, die Polizei informieren – er wurde schließlich bedroht, wenn die Botschaft auf der Postkarte kein Märchen war.
Ich stand auf, verzog das Gesicht und humpelte stärker als nötig auf die Schneider zu. Sie versuchte wieder einmal, ihre Hochsteckfrisur zu richten, was ihr wie immer misslang. Unter den Armen ihres orangefarbenen Rollkragen-T-Shirts hatten sich Schweißflecke gebildet.
»Ich glaube, mein Knie tut doch noch zu doll weh«, log ich und sie entließ mich mit der dringenden Aufforderung, daheim aber nun wirklich still zu sitzen. »Dann kannst du schneller wieder arbeiten!«
Ich war froh, dass das Haus leer war. Ich googelte nach Münchens Krankenhäusern und telefonierte eins nach dem anderen ab. Schnell hatte ich ein Routinesprüchlein drauf, ich suche meinen Bruder. Nirgends wurde ein Patient mit seinem Namen geführt. Einzig im Rotkreuzklinikum – schon ziemlich weit hinten auf meiner Liste – hieß es, ja, einen Liebig, David hätten sie hier, ob ich denn das Geburtsdatum hätte. Auweia – ich stotterte blöd herum und dann fiel mir ein, dass David erwähnt hatte, er wäre Sternzeichen Jungfrau.
»Wissen Sie, ich hab vier Brüder, da bringe ich die Geburtstage schnell mal durcheinander«, fiel mir ein. »4. September 1990.« Meine Urgroßmutter hatte an einem 4. September Geburtstag gehabt. Kurze Stille in der Leitung. Und dann: »Ah, nein, dann ist er das nicht. Unser David Liebig ist Jahrgang 1933. Tut mir leid.«
Ich ließ erschöpft den Hörer sinken. Das brachte doch alles nichts. Sollte ich wirklich zur Polizei gehen? Irgendwie kam mir das auch seltsam vor. Vielleicht sollte ich erst noch einmal zu ihm fahren.
Eine Dreiviertelstunde später stand ich erneut vor seinem Haus. Jetzt schmerzte mein Knie tatsächlich wieder stärker. Ich blöde Kuh! Seine Wohnung – das erkannte ich beim Blick durchs Fenster – war nach wie vor leer. Nichts hatte sich seit meinem Besuch verändert.
Als ich an der Gärtnerei aus dem Bus stieg, lief ich Max’ Mutter in die Arme. Die hatte mir ja gerade noch gefehlt. Wahrscheinlich würde sie mich mit Vorwürfen und Anschuldigungen überkippen, wie ich ihren einzigen, geliebten Sohn so fies im Regen hätte stehen lassen können. Doch sie kam strahlend auf mich zu.
»Jetzt weiß ich, warum wir dich so lange nicht gesehen haben, Tabea«, rief sie schon von Weitem. »Max hat gar nicht erzählt, dass du am Bein verletzt bist. Wie ist das denn passiert?« Hätte ich sagen sollen: »Ihr werter Herr Sohn hat mir im Dunkeln aufgelauert und mich vom Fahrrad geworfen?« Natürlich nicht. Und so sagte ich brav: »Kleiner Fahrradunfall. Geht schon wieder.«
Anneliese Würster tätschelte mir den Oberarm. »Aber komm wieder vorbei, wenn’s dir besser geht, gell?!« Max hatte also von unserer Trennung nichts erzählt. Dieser Feigling. Sollte ich? Ehe ich zu Ende denken konnte, war ich schon dabei, Tatsachen zu schaffen.
»Hat er gar nichts gesagt?«, fragte ich scheinheilig. »Max und ich – äh, wir haben uns getrennt.«
»Was?« Der Ausruf hallte über den ganzen Gärtnerei-Parkplatz. Sie schlug die Hand vor den Mund und ich hatte schon Angst, sie würde zu weinen anfangen.
»Ach Gott, Tabea, so was!« Sie schluckte. »Wie lange schon?«
»Noch nicht so lange. Vor gut einer Woche etwa.«
»Herrje, herrje!« Sie schien wirklich fassungslos. »Und ich wundere mich schon, warum der Max so schlecht gelaunt und reizbar ist. Ach, die Kerle – nie sagen sie was. Ja, aber, ähm, darf ich das fragen: Hat er dich verlassen?«
Ich hatte keine
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