Todesformel
schon auf den Eingangsstufen, sieht übernächtigt aus, scheint kleiner zu sein als vor zwei Tagen. Die gelbe Rüschenbluse, die sie über der weißen Hose trägt, steht ihr überhaupt nicht ins Gesicht. Trotz Wangenrouge und Lippenglanz sieht sie bleich aus, doch die Augen blitzen wach.
Wenn die Welt aus den Fugen gerät, ist ein großes Sonntagsbuffet gerade richtig.
Knut und Sven schauen fragend, ich stelle Claas vor: »Er gehört jetzt zu Noël und zu mir. In den vergangenen grässlichen Wochen war er immer und zu allen Tages- und Nachtzeiten für uns da. Ohne ihn könnte ich im Augenblick ›Kind und Kanzlei‹ vergessen …«
Sven gibt sich forsch, ich fühle eine gewisse Spannung, Wärme steigt mir ins Gesicht. Sven soll es ja nicht unpassend finden. In gewissen Momenten, wenn du dir so sicher bist, dich immer und unter allen Umständen auf einen verlassen zu können, da ist es nur logisch, deinen Kopf ab und zu an seine Schulter zu legen. Ich werde nicht rot, es ist selbstverständlich, nette Menschen zu mögen.
Wieder sitzen wir in der Veranda in Aljas Rattanstühlen, essen, hören zu.
Aljas Fahrt war anstrengender, als sie sich gedacht hatte, Samstagsverkehr auf französischen Straßen. Ein nächstes Mal würde sie vor Morgengrauen aufbrechen. Ohne den Routenplan hätte sie sich in den verwinkelten Sträßchen und Wegen in den Hügeln hinter Arles heillos verfahren.
Dann stand Alja vor Achim und stellte fest, ein Fremder. Groß und schwer erschien er ihr, bewegte sich steif. Seine Tränensäcke und die Hängebacken kontrastierten zum Haarschnitt, sehr kurz, mit Gel gesteift. Designerlook. Ja, er arbeitet, züchtet die interessantesten Tomaten, verdient Geld, bezahlt Steuern, trinkt mit den Gendarmen den eigenen ›Pastis‹, natürlich besitzt und pflegt er eigene Reben – ein Wein trinkender Tomatenzüchter.
Noch immer redet er in Worthülsen, zitiert irgendwelche Gurus. Das Denken scheint ihn nicht mehr zu faszinieren, er ist zynisch um des Zynismus willen. Alja hat ihn gefragt, ob es ihn später nicht betroffen habe, seine ganze damalige Welt in den Sand gesetzt zu sehen. – Das sei Ideologie gewesen, wie sollte er dem nachtrauern?
Es wurde kein richtiges Gespräch. Dass sie wirklich während Jahrzehnten als Musikerin in der Philharmonie spielte, diese Mühle gekauft hat und heute Gartenkolumnen schreibt, überraschte ihn offensichtlich, sie habe doch damals auf einem Büro gearbeitet. Alja zog kein Gesicht, er war es nicht wert. Dann schenkte er ein, stellte Ziegenkäse und Olivenbrot auf, Tomaten. Er hat ein Geschäft aufgebaut. Wann und wie ist er denn dazu gekommen?
Zweifelnd schauten sie einander an. Hatten sie schon damals kein vernünftiges Wort miteinander geredet? Schließlich brachte es Alja auf den Punkt: Entweder war ihre Erinnerung künstlich oder die Szene hier und jetzt war völlig unecht. Ist er der Studentenführer von damals, der so hinreißend reden konnte? Hat er seither zu viel ›Pastis‹ getrunken oder was?
Er schenkte sich das dritte Glas ›Dôle‹ ein: »Warum bist du so dringlich hergekommen, was ist los? Du warst damals nett. Falls du Schwierigkeiten hast, wenn du irgendwie in der Vergangenheit suchst, so ist das Beste, du weißt die Wahrheit. Sie ist hässlich. Dann kannst du wieder gehen.«
Was Achim dann mit schmalen Lippen zugegeben hat, war: Damals in jenem Sommer war er unecht, ein Pseudostudentenführer, dies im Auftrag der westlichen Abwehr, ein Antikommunist. Gleichzeitig testete er im Auftrag der ›Delton‹-Werke Drogen, das brachte Geld. Es war eine Verknüpfung von Zwängen. Später, nach zehn Jahren vielleicht, vermutete er, beides gehörte zusammen. Die zu beweglichen Geister von damals wären gezielt zugedröhnt worden, entweder übernommen oder kaputt gemacht; von beiden Seiten wohlverstanden, das wäre das Aberwitzige. Es war Krieg, da gibt es kein Dazwischen. Alja war anders, warmherzig und nett, um ehrlich zu sein, er hatte sie nicht für sehr intelligent gehalten, sie hatte ja auch nie etwas gesagt. Sie glaube anscheinend heute noch an das Gute. Wenn sie die Wahrheit wissen wolle, er hatte die Anweisung, sie in die Mühle zu bringen. Es war auch geplant, sie an einem bestimmten Tag wegzuekeln, er weiß das alles nicht mehr so genau. Er hatte sie seither vollkommen vergessen. Er weiß nicht, wer jeweils die Fäden zog, doch dieser tat es gut. Alja solle ja nicht denken, er sei draußen. Die Zeit habe sich geändert, doch der Sumpf sei der
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