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Todesformel

Todesformel

Titel: Todesformel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verena Wyss
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über einer Kommode. Es sei reiner Kunstgenuss, dieses eine Bild anzusehen. Ich solle unbedingt die ›Utopia‹ von Morus lesen. Es lese sich wie der Entwurf zu Amerika, erstaunlich. Der Morus sei eine von Meret Platens Lieblingsgestalten. Weil er die Utopie erfunden habe und weil er sich für seine Überzeugung hat die Eingeweide herausreißen lassen. Holbein war ja einer der großen Künstler vom Oberrhein. Ob ich die Pflanzenbilder der Anna Maria Sybilla Merian kenne? Sie, Meret Platen, male ja nicht die gesunden Pflanzen, eher die Variationen, auch das sei Schicksal. Ihre Stimme ist wieder leise. Sie denke, wer seine Arbeit hingebungsvoll tue und das tue, was das Leben ihm bringe, trage zum Fortbestand der Erde bei. Unvermittelt redet sie von der weißen Eule auf dem kleinen Bild, Geistervogel, Traumgesicht, die Erleuchtung komme immer aus den Träumen.
    Das alles sagt sie rasch, in einem gar leichten Plauderton, so nebenbei, es fällt gar nicht direkt als absonderlich auf und ist schon vorbei, eine frohe, nette Verabschiedung von einem Ostertee und von neuen Bekannten eben.
     
    Als wir um acht Uhr heimkommen, liegt auf der gestreiften Fußmatte vor unserer Wohnungstür ein Schokoladen-Osterei mit großer rosa Schleife, ›Frohe Ostern und Entschuldigung für die Überschwemmung, C.R.‹. Natürlich klingeln wir gleich oben zu einem Dankeschön; ich erziehe Noël, es gehört sich so. Claas Ranke ist rasiert, die Wangen schimmern bläulich. Sein Lachen ist liebenswert, absolut zurückhaltend. Wir lassen uns hereinbitten, für einen Augenblick. Er trägt in der Wohnung leichte Lederschuhe, nicht Pantoffeln und auch keine Sandalen. Zum zweiten Mal bin ich in Erna Kockels Wohnung. Bücher, Zeitungen, eine Schultertasche, der Laptop müssen ihm gehören. Die gelben Sessel sehen futuristisch aus, sind überraschend bequem, an den Wänden hängen Landschaften in Rötel und halbgegenständliche Lithografien. Noël kriegt eine Tasse ›Gute-Nacht-Tee‹, ich trinke gern ein Glas ungarischen ›Tokajer‹, auf gute Nachbarschaft. Jennifer heiße ich, weil meine Adoptivmutter Engländerin ist, sie lebt in New York, seit ich achtzehn bin. Noël zuliebe nichts auslassen. Sie ist Psychologin. Wir lieben Dorothy, besuchen sie fast jedes Jahr. – Claas kommt aus Hamburg, ist aber Österreicher, in Kärnten aufgewachsen. Er ist Schriftsteller und arbeitet als Journalist für Zeitschriften, meist Reisejournalismus. Er hat schon mehrere Bildbände herausgegeben. Claas wird die Decke unten im Bad begutachten, sobald sie wirklich trocken ist. Er wird sie notfalls selbst streichen, er kann das.
    Wir erzählen von unserem Osterfest bei Alja und dass Benno mit Ines auf den Kilimandscharo steigt. Noël findet erzählenswert, eine Ergänzung zu vorher, dass ich Aljas Findelkind bin und dass Knut Polizist ist, genauer, Leiter der Verkehrsabteilung der Polizei. Ich bin irritiert, trinke mit großer Aufmerksamkeit meinen Wein. Claas Ranke tut, als sei nichts Besonderes dabei, gibt sich höflich interessiert, etwas zu höflich, wie man eben auf Kinder eingeht, befragt Noël zur Stadt. Er selbst ist schon mehrmals hier gewesen, noch nie am Rheinhafen und noch nie auf dem Münster. Er ist hier, um zu arbeiten, hofft, in drei Monaten eine Arbeit abzuschließen.
    Wie wir nach einer halben Stunde die Treppe wieder hinuntersteigen, fühle ich mich froh, ich habe seit Jahren keinen ›Tokajer‹ getrunken.
    Beim Zubettgehen kommt Noël nicht gleich zur Ruhe. Meret Platen, eine fremde Frau, hat ihn im Sturm erobert. Ich bin erstaunt, wie genau er sich die kleinen Bilder angesehen hat, die feinen Federchen der Eule haben es ihm angetan, so flauschig die Brust, doch auch von der rosagoldenen Farbe des Hintergrunds kann er schwärmen. Ich necke ihn, dass er mit seiner Beobachtungsgabe der geborene Polizistenenkel ist und dass Dorothy überschwänglich werde, wenn sie höre, er liebe eine bestimmte Farbe und dann erst noch diese. Noël findet, Meret Platen sehe aus wie die Königin der Nacht in Peterchens Mondfahrt, schön. Ich bin überrascht, auch ich habe sie als schön empfunden, und es ist nicht der Kiefer und nicht die Nase, die meinem Jungen gefallen. Weil Meret Platen Bilder malen kann, will auch Noël Maler werden.
    * * *
    Ostermontag – Feiertag. Wir verabreden uns mit Knut im Schnellimbiss an der Ausfallstraße. Es ist ein guter Einfall, mit Noël und Moshe einen Ostermontagslauf dorthin zu veranstalten, die beiden gehören

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