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Todesformel

Todesformel

Titel: Todesformel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verena Wyss
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wieder Schüsse, der Schwarm hob sich kurz, am Boden lagen tote Krähen, schon stürzte sich der Schwarm wieder herab, doch Alja hatte es gesehen: Den Pfahl, darauf ein Vogel, blutüberströmt, ein kleiner Großvogel, lahm flatternd. – So nicht.
    Schon liefen sie draußen im Freien in Richtung dieses Pfahls. Scharfes Peitschen von Schüssen, dreimal, viermal, schreiende Männerstimmen. Sie habe den Mund zusammengepresst und sei einfach gelaufen. Krähen flatterten krächzend hoch, flatternde Flügel direkt vor ihr. Abwehrend schwang sie den Ast über ihrem Kopf und über Ida, instinktiv, schlug in die Luft. Die Vögel waren wieder hochgestiegen, hielten jetzt laut krächzend Abstand, da war der Pfahl. Eine Kette, ein großer, flaumig weißer, blutender Vogel, der sogleich gegen Alja fauchte, runder Kopf, großer Schnabel, aufgesperrte, jetzt schwarze Augen – ein Uhu, es musste ein Uhu sein. In Panik riss er gegen die Kette, mit der er an beiden Füßen an einem Klotz auf diesem Pfahl angekettet war. Er fiel, sein Gewicht risse ihm gleich die Beine weg, doch da hatte sie ihn schon aufgefangen. Mit dem Schnabel hackte er in ihren Arm, ein stechender Schmerz, da hatte sie schon mit der anderen Hand den Pullover über ihn gezogen, umwickelte den Vogel sehr ungeschickt mit der freien Hand. Dann versuchte sie, ihn von unten besser zu stützen, zu fassen. Wenn sie nur mit diesem einen Flatterflügel zurechtkam, er würde brechen. Schon hielt sie ihn fest an sich gedrückt.
    Idas jetzt geifernd helles Bellen richtete sich gegen zwei flintenbewaffnete Männer, die vom Waldrand her kamen, schon nah waren. Die Leine hatte sie irgendeinmal losgelassen. Sie fühlte das Herzklopfen des Vogels, den sie in ihren Armen hielt. Jetzt war er still.
    Alja kriegte die Kette nicht los, stritt mit den Männern, der eine wollte die geifernde Ida gleich erschießen. Alja schimpfte kurzatmig: »Sie meint bloß, mich verteidigen zu müssen; was fällt Ihnen ein, das ist Tierquälerei; Uhus sind geschützt, was soll diese Übung? Ich zeige Sie an wegen Tierquälerei und wegen Frevel. Fuchteln Sie nicht mit Ihrer Waffe, sonst geht sie noch los, das wollen Sie doch nicht.« Alja war sich bewusst, wie sie aussah: spitzes ungeschminktes alterndes Gesicht, immer größer werdende grüne Augen, verstrubbelte ziegelrote Haare, verschwitzt von diesem tüchtigen Lauf, die uralten Turnschuhe, das verwaschene, schlabbernde blaue Hemd mit dem verblassenden Aufdruck, die sehr kurze grüne Hose, hechelnd wie Ida – ein Waldschratt.
    Zu ihrem Schreck behauptete ihr Gegner, Jagdaufseher zu sein, beschimpfte sie. Alja hielt ein verletztes Tier im Arm, hatte einen geifernden Hund neben sich. Ein Verrückter hielt seine Flinte auf sie gerichtet. Sie empörte sich weiter über die Art, wie hier Krähen gejagt werden. Es passte zu den Umgangsformen. Der Jagdaufseher wurde grob, legte die Flinte auf Ida an. Wie Alja ihn anschrie, mischte sich der andere ein.
    »Angeleint war er nicht, das bezeuge ich. Wenn ein Jagdaufseher angibt, er hätte ihren Hund beim Jagen erwischt, glaubt ihnen niemand das Gegenteil. Wer sind Sie denn, wie kommen Sie dazu, hier groß daherzureden, Sie befinden sich auf meinem Grund und Boden, mein Name ist Platen-Alt. Der Wald hier ist mein Wald, diese Lichtung gehört mir. Bis jetzt habe ich nichts dagegen, dass auch andere Leute sich frei in meinem Wald bewegen. Es täte mir sehr leid, wenn ich das ändern müsste.« Er redete mit Oberschichtenakzent, geschliffen, ein gut erzogener Frauenfreund, ein Herrenmensch, innen die Stahlrute.
    Mit derartigen Leuten hatte Alja gelernt umzugehen. »Wenn ein Jagdaufseher einen geschützten Vogel zum Lockvogel nimmt, ist ihm ein erstaunlicher Irrtum passiert, den man nicht durch Uneinsichtigkeit verschlimmern sollte.«
    Sie lösten sorgfältig Klotz und Kette von den Vogelfüßen, die jetzt steif aus Aljas Pullover ragten. Noch immer fühlte sie das hämmernde Vogelherz.
    * * *
    Zum zweiten Mal fahre ich den ›Jeep‹ durch dieses Tor. Ich bin bei Meret Platen auf ›Holsten‹ angemeldet, ich muss mit ihr reden. Das erste Mal war jene gespenstische Nachtfahrt, Sven an meiner Seite. Sven, hinter dem ich ins Haus gestürmt bin, mit dem ich diese verrückte Frau zum Fenster hinausgehievt habe. Moshe im Heck ist mein Begleiter. Ich höre sein leichtes Hecheln, das immer bei Kurvenfahrten einsetzt, er hält sich jeweils mehr oder weniger im Gleichgewicht. Moshe wächst unter unseren Augen, ist bald zu

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