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Todesformel

Todesformel

Titel: Todesformel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verena Wyss
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groß für den Käfig für Katastrophenhunde, den Knut uns beschafft hat. Also sitzt er jetzt völlig frei hinten, könnte ohne Weiteres über die Sitze zu mir nach vorn kraxeln, doch das habe ich ihm verboten. Im Minirückspiegel ist die Wölbung seines Kopfs zu sehen, noch sitzt er.
    Erstmals sehe ich ›Holsten‹ bei Tageslicht. Letztes Mal war ich zu angespannt, um auf etwas anderes als auf das nahe im Scheinwerferlicht Aufscheinende zu achten, ich bin keine Polizistin. Jetzt bin ich spontan beeindruckt: Ligusterhecken, Einfahrt, Mauern, schmiedeeiserne Gitter, weitere Hecken, Zierquitten, Kastanienbäume. So großartig hatte ich es mir nicht vorgestellt. Ich fahre direkt auf die Orangerie zu, stoppe unter einem Kastanienbaum. Die Autofenster lasse ich drei Finger breit offen.
    Die Orangerie und ein weiteres Gebäude sind im Stil von Patrizierhäusern gebaut, alte Mauern mit Eckpfeilern aus Quadern, den früheren Erdbebenverstrebungen, fast schwarze Balken, steinerne Simse und Einfassungen, tiefgezogene Walmdächer mit den berühmten unerschwinglichen Biberschwanzziegeln. Im Kontrast dazu ist der rechteckige Platz zum weit hinten liegenden Wohnhaus in moderner Gartenarchitektur angelegt. In einer durchgehenden Pflästerung liegen in strenger Ordnung quadratische Beete aus niedrigem Buchs, Thymian oder Rosmarin, geometrisch geschnitten, dazu cremefarbig und rosa blühende Azaleen. Das Haus, ein blinkender schneeweißer Würfel, Glas, Metall und Stein, große Fensterflächen, über der Eingangstür auf schlanken Säulen eine Balkonterrasse – extravagant, herrschaftlich, ein Landsitz. Das ist, was die Leute im Dorf spüren, Abgrenzung durch Reichtum. Wobei Chantal Platen-Alt zugegebenermaßen auch das Klavier der Demokratie spielt, ›con variazioni‹. Irgendwo gibt es einen Rosengarten.
    Ich trinke heißen, extrem bitteren Tee, Meret Platen hat sich ein dunkles Bier eingeschenkt. Sie sitzt da wie eine Elfenbeinstatue, kostbar, grazil. Es mag das ausgebleichte Leinenkleid sein, das ihre weiße Haut, die schimmernden Haare, die großen braunen Augen unterstreicht. So muss Schneewittchen ausgesehen haben.
    Mein Mitbringsel ist ein dunkles Extrabrot aus der Stadt, in Gupfform, dazu von Alja fünf Stück ihrer kostbaren Pfingstrosen, Alja lässt herzlich grüßen.
    Meret Platens Augen werden feucht. Fast beiläufig, doch so, dass ich weiß, es ist wichtig, erwähnt sie, während ihres Studiums oft gehungert zu haben. Etwas perplex schaue ich mich um, Meret Platen lebt in schönen Sachen, war doch immer die Tochter Platen. Sie nimmt meinen Blick auf, ihr Monatsgeld war absichtlich zu knapp bemessen. Es war Edward, der bestimmte, eben Stiefvater. Die Erträge ihres Vermögens waren für sie gesperrt. Andere hatten weniger, es würde schon gehen. Als sie einmal bewusstlos zusammenklappte, kam niemand auf den Gedanken, sie könnte seit Tagen zu wenig gegessen haben. Ihre Magerkeit sah man als konstitutionell an, zudem war man existenzialistisch, mager, schwarz gekleidet, intellektuell.
    »Nein, magersüchtig war ich nicht.« Meret Platen sieht mich an, sagt: »Ich hatte damals einen großen Kummer. Es blieb mir nichts übrig, als hart zu sein.«
    Sie schüttelt die maron getönten Haare aus dem Gesicht, meint trocken, »Ich werde abhängig wie ein Hund, nur weil einmal jemand nett zu mir ist.« Ich überlege, wen sie jetzt meint, ihre Beiläufigkeiten nerven. Und schon fährt sie ohne jeden Zusammenhang fort:
    »Als ich damals realisierte, dass es die Pianistin der Philharmonie war, die die alte Mühle gekauft hatte, war das schon sehr erstaunlich. Dann hat es sich als Glücksfall herausgestellt. Alja Berken ist eine jener integren Frauen, die immer das Richtige tun, Tatfrau, niemals Täterin. Der Unterschied liegt in der Freiheit, die dem Gegenüber eingeräumt wird. Und darin, niemanden zu verletzen, behutsam miteinander umzugehen. Das ist eine Haltung.«
    Dann fügt sie bei: »Ich denke, ich studierte Biologie, um die Anerkennung meiner Mutter zu gewinnen. Doch sie hat mich nie bemerken wollen, auch damals nicht und heute ist es zu spät. Heute hat sie Alzheimer im fortgeschrittenen Stadium, jetzt könnte sie mich nicht mehr erkennen, selbst wenn sie es wollte.
    Lange sitzen wir schweigend, die Luft scheint stickig zu werden. Ich bin verbildet durch Dorothy und frage mich, ob diese Frau vor mir wohl einen ewigen Mangel hat, ein nicht zu stillendes Bedürfnis, angenommen zu sein? Das geht mich nichts an, also frage

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