Todesformel
Hauseingangs hin. Wir werden die Büsche regelmäßig mit dem Schlauch abspritzen, gegen den Straßenstaub. Am Abend streicht Claas mit Noëls Hilfe den Holztrog auf der Terrasse mit hellgrauer Allwetterfarbe. Dahinter kommt ein kleines Kuppelspalier an die Hauswand zu stehen, wir träumen von blassgelben Kletterrosen. In den Trog pflanzen wir Thymian. Das Ganze war Claas’ Idee. Es tut so gut, nicht an alles allein denken zu müssen.
* * *
Mit zuckenden Ohrläppchen sitze ich in der Kirche von Hochberg in einer Trauerfeier, die im ›engsten Familienkreis‹ stattfinden soll, zu der ich nicht eingeladen wurde; neben mir sitzt der ›anständig‹ gekleidete Noël. Er hat gequengelt mitzukommen. Er habe Frau Platen gekannt, jetzt sei sie tot, wie Fritzi. Er weint nicht, er wird jeweils trotzig, schiebt den Unterkiefer nach vorn, ein kleines Durchsetzungskinn, blitzt mich an: »Du kannst gar nicht wissen, ob eine Beerdigung richtig ist für mein Alter« – ein Juristenkind.
Wir sitzen in dieser ungeheuerlich restaurierten Neugotik in einer der hinteren Reihen. Noch nie saß ich in einer Kirchenbank, die nicht unbequem war, dadurch bleibe ich wach. Hier hinten sitzen auch andere Leute aus dem Dorf. Knut ist da, auf der Gegenseite habe ich einen großen Hut gesehen, Aljas dreieckiges Gesicht ganz klein darunter. Irgendwo sitzen Sven und Urs Bäumlin. Zuvorderst dann sitzen wenige Leute in mittlerem Alter, elegant schwarz gekleidet, Verwandte. Die meisten Anwesenden sind Männer. Der ›engste Familienkreis‹ scheint die ›Delton Biotec‹ zu sein. Ich erinnere mich, wie Alja sagte, Felix Gamba gehörte zu Meret Platens Leben. Noël sitzt nah, ich spüre seine Wärme am Oberschenkel. Was Noël wohl von diesen vielen Männerrücken hält? Ob er Frau Platen-Alt schon gesehen hat?
Sie tragen den Sarg herein. Ich will mir ihr Gesicht nicht vorstellen. Ich weigere mich, mich in eine Trauer hineinziehen zu lassen, sie ist meine Klientin. Mein andauerndes Ohrenzucken muss die Nachwirkung des Schocks sein. Es ist absurd, dass sie als Kind schon in diesem Weiher ertrinken wollte.
Jetzt steht der Sarg vorn. Ein Kranz fällt besonders auf, dunkelrote Rosen und hellrote Nelken gemischt, ein Vermögen mit hellroter Schleife, eine Schrift in Goldbuchstaben.
Der Pfarrer spricht, jemand von der ›Delton Stiftung‹ spricht. Ich schaue korrekt nach vorn, immer auf den Sarg. Jemand hat es indirekt getan. Vier Tage vorher hat sie mir das Mandat entzogen. Sie hätte mich in diesem Moment dringend gebraucht. Es musste etwas hinzugekommen sein, etwas Gefährliches, dem sie sich nicht anders entziehen konnte. Ich meine, sie im Sarg liegen zu sehen, in einem weißen Kleid. Ich trage den Zettel in der Innentasche meines Jacketts bei mir. Für Svens Akten habe ich ihn abgeschrieben: Das Leben, das das Leben fordert, weil es das Glück ist; weil es so das Glück ist oder fordert das Glück das Leben?
Kurz höre ich auf das laute Scheppern der Orgel. Wer in dieser Trauergemeinde mag von dieser CD-ROM wissen? Jemand sitzt möglicherweise hier, der genau weiß, was gespielt wird. Wo sitzt eigentlich Mattis Platen-Alt? Ich kann ihn nirgends sehen, doch er ist ja auch eher klein. Ich weiß nicht einmal, ob sein Schädel von hinten rund ist. Es ist so surreal, spekulativ. Es ist gar nicht möglich, dass ich, Jennifer Bach, hier in einer biederen Dorfkirche sitze und irgendjemand könnte in dieser gleichen Kirche sitzen, der mit einem Film von unvorstellbarem Grauen zu tun hat, krepierende Menschen. Meret Platen hat diesen Film gekannt, ich bin mir sicher. Ebenso sicher weiß ich in diesem Augenblick, vorn ein blumengeschmückter Chor mit dem Kreuz und vor meinen inneren Augen die entsetzlichen Bilder, dass sie deswegen tot ist. Man müsste gellend schreien.
Ich fühle Noël neben mir. Noël ist noch ein Winzling, ich bin eine kleine, unbedeutende Anwältin. Ich fasse nach Noëls Hand, drücke sie rasch. Ich lächle ihn an, er erwidert meinen Blick ernst.
Die Trauergemeinde verlässt die Kirche seitwärts zum Friedhof. Noël und ich verlassen die Kirchenbank auf der Seite, gehen unauffällig nach hinten zu einer der Seitentüren, sind draußen. So haben wir es abgesprochen.
Wir schauen nicht zurück, sehr schnell gehen wir zum Parkplatz. Als wir ins Auto steigen, biegt hinter uns Alja in ihrem ›Fiat‹ aus einer Parklücke, fährt weg. Schon verschwindet das Auto um die Kurve in Richtung Feldisberg.
Noël und ich, wir fahren in den Wald
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