Todesformel
Die üblichen Pflegeanleitungen lassen sich im Internet abrufen.
Wie die meisten Pflanzen gedeihen auch Tomaten am besten, wenn mindestens zwei Stöcke derselben Sorte nebeneinander stehen. Im Spezialhandel gibt es mehr als vierzig erhältliche Sorten, von rot über gelb zu grün zu gestreift, von rund zu oval zu superlang, von den Winzlingen zu den Riesen. Sie unterscheiden sich in ihrer Reifezeit und nach ihrem Verwendungszweck – die Auswahl geschieht nach Zufall und Sympathie. Als Zierfrüchte scheint es ihnen am wohlsten zu sein.
Alja ruft an, besorgt, wie es mir geht, wie ich den Schock verkrafte.
Alles ist gut, wir haben es gewagt und durchgezogen, Noël besucht die neue Schule. Ich bin das letzte Mal zu dieser Frau Grau gegangen: »Sehen Sie, Sie mögen recht haben, dass mein Kind leidet, weil mein Mann und ich geschieden sind. Doch er hat in meiner Familie und mit unseren Freunden ein tragfähiges Umfeld, mein geschiedener Mann liebt ihn. Noël ist gehalten. Er lernt, Konflikte zu ertragen. Der Grund seines auffälligen Verhaltens lag bei Ihnen. Ich will, dass Sie jedes Wort, das ich jetzt sage, nie mehr vergessen können: Sie sind eine böse, verbitterte, neidische Frau. Sie hassen kleine Jungen. Ihnen ›rutscht‹ oft einmal die Hand aus, mit Kraft. Sie misshandeln vor allem mental, hetzen die Klasse gegen ein Kind auf. Das ist alles, was Sie an Pädagogik zu bieten haben: Eines wird zum schwarzen Schaf, so lassen sich die guten Schäflein führen. An den Elternabenden wagt niemand, es auszusprechen, weil dies die Situation verschlimmern könnte, jeder fürchtet um das eigene Kind. Ich habe jetzt eine Beschwerde eingereicht, wobei ich weiß, dass sie nichts bewirken wird, andere haben es vor mir schon erfolglos versucht. Ich tue es, damit auch Ihre Vorgesetzten sich nicht herausreden können, nie etwas auch nur geahnt zu haben. Sie werden bis zu Ihrer Pensionierung im Amt bleiben.« Ich lächle sie von oben her an: »An Noël können Sie sich nicht mehr vergreifen, weil Noël heute die Schule gewechselt hat. Ich kann Sie nicht ändern, aber er muss mit Ihnen nicht dieselbe Luft atmen.«
Den letzten Satz habe ich mir vorgenommen zu sagen, Frau Grau dabei fest anzuschauen, mich ohne Gruß abzuwenden.
* * *
»Wäre Claas Ranke nicht, wir müssten ihn erfinden«, ich sage es und Noël lacht. Ich meine es auch. Ich arbeite und arbeite, schalte oft erst spät in der Nacht irgendeinmal den Computer ab. Natürlich muss ich versuchen, meine Organisation zu verbessern, Self-Management. Das würde darin bestehen, dass zum Beispiel ein Buchhalter die Buchhaltung besorgt und eine Stundenfrau den Putz und die Wäsche und irgendjemand diesen stumpfsinnigen Einkauf. Das alles benötigte von der anderen Seite her Organisationszeit, und was ich wirklich an Zeit einsparte, verursachte so große Kosten, dass ich noch mehr Zeit brauchte als die eingesparte Zeit, um dies alles zu bezahlen. So ist die Welt.
Deswegen bin ich so froh um Claas, dem es offensichtlich Spaß macht, mit Noël etwas zu unternehmen. Er sagt es so. Es freut ihn ebenso, und auch das glaube ich ihm, mich etwas entlasten zu können; nicht von Noël, Noël ist keine Last, bloß von der dauernden Aufmerksamkeit.
Wenn ich diese Woche jeden Mittag zwanzig Minuten bügle, sollte irgendeinmal jedes Jackett, jede Bluse, jeder Rock und jede Hose aufgebügelt sein. Noël läuft beinah bügelfrei durch die Welt.
Claas Ranke erklärt, er sei sofort für eine Verschönerungsaktion dieses Hauses zu haben. Er wisse zwar nicht, wie lange er hier zur Miete bleiben könne, er sei ja bloß der Untermieter. Hier in diesem Haus in dieser Stadt ist eine kreative Atmosphäre. Das ›frei‹ in freier Schriftstellen nimmt er ja wörtlich, übersetzt es mit ›reisen‹. Allein wegen dieser Sukkulenten hat er im vergangenen Winter eine längere Reise durch Mittelamerika gemacht, Guatemala. Du solltest mit mir einmal diese Reise machen können, die üppige Vegetation, diese satten Farben, die Stimmung in einem Urwald. Du siehst bizarre, überhöhte Formen, rauschähnlich. Bis zu dieser Reise war sein Verhältnis zu Kakteen wertfrei, doch jetzt findet er sie phänomenal. Mir sind Kakteen eher unheimlich, als wären es zusammengedrückte etwas hinterhältige, verquere Zwerge.
Noël, Claas und ich krempeln die Ärmel hoch. In die vier großen cremefarben glasierten Töpfe setzen wir zwei Oleander. Zwei ledrigblättrige Lorbeerbüsche kommen unten rechts und links des
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