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Todesformel

Todesformel

Titel: Todesformel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verena Wyss
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andere als feige. Ich denke, sie wollte ›Holsten‹ nicht an dich heranlassen. So, wie sie es jetzt wieder versucht hat, als sie dir zuletzt sogar das Mandat entzog. Ihre Angst galt immer nur dir, seit du geboren bist und während der Ereignisse jetzt ganz besonders.
    Heute läuft ein Mörder herum. Jetzt sind es vier Todesfälle. Sie gehören in eine Reihe mit dem grauenhaften Inhalt der CD-ROM. Reg dich also noch immer nicht auf. Denk nach. Hier muss der Grund liegen, warum sie sich umgebracht hat. Ich bin mir sicher, sie wusste, ich hatte sie wiedererkannt. Sie wusste, ich würde es dir nach ihrem Tod sagen.«
    Mein Kopf ist eine gut funktionierende Ansammlung von Zellen mit Zwischenschaltungen, Synapsen, die bei intensivem Gebrauch sogar wachsen. Netterweise sind dort auch Schutzmechanismen eingebaut: Droht an einer Stelle ein Kurzschluss, übernimmt eine andere das Denken, ein schaukelndes Gleichgewicht. Noël hat also jetzt vier Großmütter, Alja mitgezählt.
    »Das sind zwei Dinge: Sie hat mich vor fünfunddreißig Jahren weggegeben, du sagst, sie hat sich schon damals gefürchtet. Doch die Ereignisse jetzt, die haben mit den Forschungsergebnissen zu tun, die sie kannte. Warum also ist sie jetzt gegangen? Warum konnte sie nicht warten, bis zumindest der Tod ihres Liebhabers geklärt war?«
    »Du könntest in Gefahr sein, wenn jemand wüsste, dass du ihre Tochter bist. Möglicherweise wäre dann sogar Noël in Gefahr. Unser einziger kleiner Vorsprung liegt darin, dass wir das wissen und dass, wer immer es ist, es vielleicht nicht weiß, ganz sicher aber nicht weiß, dass wir wissen – das zeigt sich an unserem harmlosen Verhalten.«
    Ich schlucke, Meret Platen war so, wie ich mir eine Mutter geträumt hätte. Meret Platen hat sich von mir verabschiedet, doch ich wusste es nicht. Ich nehme einfach an, dass sie mich geliebt hat. Darum war sie so vernarrt in Noël, ihren Enkel. Wenn ich denke, dass ich an ihrer Beerdigung war. Mit den Fingerkuppen auf beiden Seiten auf Augenhöhe die Schläfen zu drücken, das stoppt das innere Weinen. Nein, ich will gar nicht traurig sein, sie hat Trauer gar nicht verdient, ich bin verletzt, ich könnte auch wütend sein, was für eine Arroganz! Soll ich kalt werden, wie meine Mutter es war?
    »Du hast gesagt, Knut habe zugegeben, dass er ahnte, wer meine Mutter ist, dass er sich irgendeinmal sicher war. Ich gehe jetzt. Ich komme nicht zu Knut zum Nachtessen. Ohne Begründung. Ich werde Noël um sieben Uhr abholen. Ich mag niemanden sehen und schon gar nicht mag ich irgendwelche Entschuldigungen hören.«
    Alja sagt nichts. Sie denkt nicht, ich sei zu hart.
    * * *
    Mit Noël und Moshe im ›Jeep‹ stoppe ich auf der Heimfahrt beim kleinen Bahnhof, ein paar Dörfer vor den ›Höhen‹, kaufe ein Päckchen der dünnen Zigaretten, light – meine Rettungsanker; als kleine Trotzreaktion gegen alle Gesundbeterei. Jetzt bin ich halt eine Mutter, die etwas Gesundheitsschädigendes tut, ich kann nicht jeden Tag Vorbild sein. Unvermittelt sage ich laut und wütend: »Genau das weiß ich auch nicht, warum mir nicht irgendjemand die Wahrheit gesagt hat.« Noël nicht damit belasten dürfen. Zumindest das will ich ihm geben können, dass er nicht seine Biografie durch meine Biografie verpfuscht erhält. Ich ärgere mich so sehr, ich möchte schreiend über die Hügel rennen. Doch da könnte ich mit meinem Mörder zusammenstoßen.
    Zu Hause werfe ich das Päckchen Zigaretten ungeöffnet in den Kehricht. Im Dunkeln gehe ich auf die Terrasse, es regnet. Im Schein der Wohnzimmerlampe häckle ich in der nassen Erde der Oleander herum, da sind noch nicht genügend Wurzeln, die ich verletzen könnte – konstruktives Umsetzen von Aggression.
    Ich gehe ans Telefon, will Dorothy anrufen, in New York ist jetzt Nachmittag. Dorothy ist irgendwie an meiner Existenz mitbeteiligt, hat sich zwar aus den hiesigen Verhältnissen herausgelöst, zeigt aber zumindest sporadisch Interesse daran, dass es mich gibt. Sie ist die Einzige, der ich jetzt jammern kann, ich habe meine Mutter gefunden, doch ich weiß es erst jetzt, da sie tot ist. Sie hatte mit schrecklichen Dingen zu tun, ich will davon nichts wissen und fürchte mich. Das Telefon in New York klingelt noch immer, der Anrufbeantworter spricht wie immer englisch, bringt mich in die Realität. Ich gebe einen fröhlichen Gruß durch, lege auf. Am Telefon und per Mail lässt sich sowieso nichts Heikles besprechen. Ich werde auch nicht auf einen

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