Todesfracht
einzelnes, sauberes Einschussloch klaffte mitten in seiner Stirn wie ein obszönes drittes Auge, das an den Rändern leicht ausgefranst war.
Cabrillo konnte die Brutalität dessen, was die Piraten getan hatten, nicht verdrängen, aber er konnte auch nicht anders, als einen Anflug von Mitleid zu verspüren. Er hatte keine Ahnung, welche Umstände den Jungen zu diesen Verbrechen getrieben hatten, aber er fand, dass er eigentlich bei seiner Familie hätte sein sollen, anstatt wie ein seziertes Forschungsobjekt auf einem Operationstisch zu liegen.
»Und was hast du herausgefunden?«, fragte er, nachdem Julia das Laken wieder über den Kopf des Leichnams gezogen hatte.
»Dieser Knabe ist tot.«
»Nun, da du bei ihm eine Autopsie durchgeführt hast, habe ich das längst angenommen.«
»Was ich meine, ist, dass, wenn er nicht in den Kopf geschossen worden wäre, er ohnehin hätte sterben müssen, wahrscheinlich innerhalb der nächsten Monate.« Sie winkte ihn zu einem Computerplatz. Auf dem Bildschirm befanden sich spektrografische Linien einer Probe, die Julia analysiert hatte. Er hatte keine Ahnung, worauf er achten sollte. Sein ratloser Gesichtsausdruck führte zu einer Erläuterung.
»Ich habe eine Haarprobe durch das optische Emissionsspektrometer geschickt.« Die Corporation hatte das millionenteure Gerät nicht nur für Julias Sanitätsstation angeschafft, sondern auch um Spurenanalysen durchzuführen. Es hatte sich vor einem Jahr als entscheidend erwiesen, als es darum ging, eine verloren gegangene Lieferung RDX-Sprengstoff aufzuspüren. »Während meiner Untersuchung«, erklärte Julia, »bin ich auf einige signifikante Symptome gestoßen. Zum einen musste er schon in allernächster Zeit mit einem kompletten Nierenversagen rechnen. Außerdem litt er unter extremer Blutarmut. Sein Zahnfleisch war an mehreren Stellen entzündet. Ich fand in seinem gesamten Verdauungstrakt Lesionen und Blutverkrustungen in beiden Nasenlöchern. Das brachte mich auf eine Vermutung, und die Haarprobe hat sie bestätigt.«
»Und welche?«
»Dieser junge Mann war über einen langen Zeitraum hochgiftigen Quecksilberdämpfen ausgesetzt.«
»Quecksilber?«
»Jawohl. Ohne eine entsprechende Behandlung lagert sich das Quecksilber – wie auch andere Schwermetalle – in Gewebe und Haaren ab. Letztlich setzt es den gesamten Körper außer Kraft, aber nicht ohne vorher so etwas wie Wahnsinn auszulösen, da es nach und nach das Gehirn zerstört. Wenn du dir noch einmal die Videoaufnahmen von dem Überfall ansiehst, dann müsstest du feststellen, dass diese Männer ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben vorgegangen sind. Der Grad der Quecksilberverseuchung dürfte sein Urteilsvermögen bereits derart gestört haben, dass er bis zum bitteren Ende gekämpft hätte, egal in welche Gefahr er sich damit begeben hätte.«
»Einige haben versucht zu fliehen«, gab Juan zu bedenken.
»Nicht alle waren den Dämpfen so lange und so intensiv ausgesetzt.«
»Was ist mit den Chinesen?«
»Ich habe eines der Opfer untersucht, eine Frau, doch bei ihr war nichts dergleichen festzustellen. Sie war sauber.«
»Aber dieser Mann war mit Quecksilber verseucht?«
»Man hätte mit der Menge Quecksilber in seinem Körper mehrere Thermometer füllen können. Ich habe zwei seiner Kumpane oberflächlich getestet und bei ihnen das Gleiche gefunden. Ich wette, sie alle weisen die entsprechenden Symptome auf.«
Juan strich sich übers Kinn. »Wenn wir die Quelle des Quecksilbers finden, werden wir auf den Unterschlupf der Piraten stoßen.«
»So könnte man es ausdrücken«, stimmte Julia zu und streifte ihre Handschuhe ab. Sie nahm die Chirurgenhaube ab und richtete mit geübtem Griff ihren Pferdeschwanz. »Man kann sich mit Quecksilber vergiften, indem man kontaminierten Fisch verzehrt, aber das bedeutet allenfalls für Kinder oder schwangere Frauen ein erhöhtes Risiko. Bei den Werten, die ich hier habe feststellen können, würde ich alles darauf verwetten, dass diese Leute ihre Basis in nächster Nähe eines verseuchten Industriebetriebs oder sogar eines stillgelegten Quecksilberbergwerks haben.«
»Gibt es in dieser Gegend solche Bergwerke?«
»Hey, ich bin für medizinischen Rätsel und fürs Zusammenflicken deiner Bande von Halsabschneidern zuständig«, erklärte Julia grinsend. »Wenn du eine Vorlesung in Geologie hören willst, musst du dir jemand anderen suchen.«
»Was ist mit ihrer ethnischen Herkunft? Das könnte die Suche doch erheblich
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