Todesfrist
dem fortlaufenden Abfragecode war man im System. Bei täglich Tausenden Auswertungen scherte sich kein Mensch darum, ob Kriminalkommissarin Sabine Nemez beim Münchner KDD arbeitete oder nicht.
Die Seite mit den Zugangsdaten erschien. Sabine tippte die Kennung ein und war im System. Was nun? Ihr Vater war kein Mörder – das stand fest. Doch die Schlinge um seinen Hals zog sich stündlich enger zusammen. Er hatte kein Alibi, bei der Befragung aus Angst gelogen und für Außenstehende ein plausibles Motiv. Aber das Schlimmste: Seine Fingerabdrücke waren am Ort der Entführung.
Sabine blieben lediglich zwei Hinweise auf den wahren Täter. Er hatte ihrem Vater ein kleines schwarzes Tintenfässchen in einer Schachtel vor die Haustür gestellt und ihn mit elektronisch verzerrter Stimme angerufen. Bloß zwei einfache Sätze: Herr Nemez,
wenn Sie innerhalb von achtundvierzig Stunden herausfinden, warum Ihre Exfrau entführt wurde, bleibt sie am Leben. Wenn nicht, stirbt sie.
Eine Anfrage an Daedalos war die einzige Möglichkeit, rasch zu einem Ergebnis zu kommen, das ihren Vater entlastete. Sie musste nach Parallelen zu anderen Entführungen suchen, mit denen ihr Vater nichts zu tun hatte.
Zielort: Deutschland. Zeitraum: die letzten drei Jahre. Delikt: Entführungen, die innerhalb von achtundvierzig Stunden mit Mord endeten. Besonderheiten: Telefonkontakt, keine Lösegeldforderung, Rätselspiel, Geschenk des Entführers als Hinweis auf mögliche Todesart.
Ihr Finger schwebte über der Enter-Taste. Jedes Mal, wenn sie eine Abfrage über den Zentralcomputer des BKA startete, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Daedalos war nicht nur der legendäre Baumeister, sondern auch der Vater des Ikarus gewesen, der der Sonne zu nahe gekommen, verbrannt und ins Meer gestürzt war.
Hoffentlich verbrannte sie sich nicht eines Tages die Finger. Strapaziere den Architekten nicht war kein Ratschlag gewesen, sondern eine Warnung. Damit konnte sie ihre Aussicht, jemals beim BKA zu arbeiten, zerstören. Genauso wie ihre Karriere bei der Münchner Polizei. Es ist doch nur, um meinen Vater zu entlasten … und den Mörder meiner Mutter zu finden.
Mit einem Mal stand ihr der Gedanke so klar vor Augen, dass es keinen Zweifel daran gab, woran sie die nächsten Tage und Wochen arbeiten würde.
Plötzlich wurde ihre Bürotür aufgerissen. Sie fuhr zusammen. Die Post-its an ihrem Monitor flatterten in der Zugluft.
Kolonowicz kam zu ihrem Schreibtisch. »Woran arbeitest du gerade?«
Rasch drückte sie die Enter-Taste. Abfrage wird ausgeführt! Mit einem Mausklick minimierte sie das Programm auf die untere Bildschirmleiste. Im nächsten Moment stand Kolonowicz vor ihrem Monitor.
»Ich habe ins zentrale Einsatzleitsystem gesehen, ob es Arbeit für uns gibt. Ist aber nichts Wichtiges dabei.«
Kolonowicz klatschte ihr die Morgenausgabe der Süddeutschen Zeitung auf den Tisch. MORD IM DOM lautete die Schlagzeile. Darunter prangte ein Foto der Frauenkirche bei Nacht. Offensichtlich eine Archivaufnahme, denn zwischen den Turmhauben strahlte der Vollmond in weißem Licht. »Tut mir leid«, sagte er. »Jemand hat geplaudert. Höchstwahrscheinlich wollte sich der Mesner ein paar Euro dazuverdienen.«
Der schmierige Glatzkopf mit den Gichtkrallen. Sabine wollte am liebsten kotzen. »Ich will das nicht lesen.«
Kolonowicz nahm die Zeitung wieder an sich. »Nur damit du informiert bist. Der Name deiner Mutter wurde bisher nicht genannt, und es gibt im Moment auch keine Fotos von ihr.« Er seufzte. »Geh nach Hause oder wenigstens zu deiner Schwester. Du kannst hier nichts tun.«
Sabine schielte zum Monitor. In der unteren Bildleiste blinkte das Symbol der blauen Pyramide. »Monika bringt die Mädchen in einer Stunde zur Schule und in den Kindergarten. Ich besuche sie, bevor sie zur Arbeit fährt.«
»Wie du willst.« Kolonowicz blickte zur Wanduhr. Es war kurz nach sechs. »Im Moment sichtet Staatsanwalt Fuhrmann die bisherigen Fakten zu dem Fall.«
»Ich würde gern mit ihm sprechen.«
Kolonowicz schmunzelte. Sabine kannte diesen nachsichtigen Gesichtsausdruck, der sie zu einem Kind degradierte. »Das ist unmöglich. Er bespricht den Fall gerade mit dem Oberbürgermeister.«
»Um die Zeit?«, entfuhr es ihr.
»Ich sagte dir ja, die Sache ist heikel. Der Erzbischof wurde bereits informiert, und der hat Oberbürgermeister und Staatsanwalt zusammengetrommelt. Die Krisensitzung dauert bis acht. Dann erfahren wir mehr.«
Was für ein
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