Todesfuge: Gerda und Otto Königs zweiter Fall (German Edition)
gewohnt, dass er sie aufzog, wenn sie ihm ihre Alltagsverdächtigungen darlegte. Jetzt übersah sie seine hochgez ogene Augenbraue geflissentlich. Das hier war keine Einbildung, hier lag ein Verbrechen vor, da war sie sich ganz sicher.
„E rzähl mir am besten alles ganz genau. Warum glaubst du, dass deine Nachbarin nicht eines natürlichen Todes gestorben ist?“ Gerlinde sammelte sich kurz und bemühte sich, ihre Verdächtigungen plausibel zu erklären. „Zuerst muss ich dir von gestern Abend erzählen.“ Sie berichtete ihrem Sohn, dass sie es sich mit einem Krimi in ihrem Fernsehsessel bequem gemacht hatte. Dass ihre Nachbarin immer recht laut Musik hörte, daran hatte sie sich schon gewöhnt und es störte sie auch selten, weil ihr Musikgeschmack der gleiche war. Gestern Abend ließ die Mutter des Dirigenten in Endlosschleife die CD der h-Moll-Messe laufen. Vermutlich, weil ihr Sohn dieses Stück in zwei Wochen bei seinem Jubiläumskonzert dirigieren würde. Stutzig wurde sie allerdings, als die Musik abrupt leiser gedreht wurde. Das geschah eigentlich nie, denn das Pflegepersonal respektierte die Musikvorliebe der alten Dame und verrichtete seine Arbeit trotz der ohrenbetäubenden klassischen Beschallung.
„Als ich plötzlich die Musik nicht mehr hörte, konnte ich mich auch nicht mehr auf meinen Krimi konzentrieren. Ich hab dann einfach mal nachgeschaut, was da los war.“
„Bist du etwa rüber gegangen und hast gefragt, ob sie die Musik wieder lauter stellen könnte, oder was?“
Gerlinde schüttelte nur den Kopf und zögerte ein bisschen, mit der Sprache herauszurücken. Sie wusste, was sie jetzt preisgeben würde, das würde ihrem Sohn nicht gefallen. „Ich bin auf meinen Balkon gegangen und habe mit einem Spiegel nach drüben geschaut. Man will ja schließlich nicht aufdringlich erscheinen und einfach den Kopf herüberstrecken.“
Georg blieb der Mund offen ste hen. „Mutti!“ Gerlinde ließ ihm keine Zeit, seine Rüge in Worte zu fassen. „Ich weiß selbst, dass man das nicht macht. Aber ich hatte keine andere Wahl.“ Jetzt wollte es Georg doch genau wissen und unterbrach seine Mutter nicht mehr. Sie berichtete, dass sie mit Hilfe des Spiegel-Spions beobachtet habe, dass ihre Nachbarin die Musik leiser gedreht hatte, weil sie Besuch von ihrem Sohn, dem berühmten Dirigenten, bekommen hatte. Einen wundervollen Strauß langstieliger roter Rosen hätte er ihr mitgebracht. Gerlinde machte eine kleine Pause, um ihrem Sohn Gelegenheit zu geben, die Freude über die florale Aufmerksamkeit auf sich wirken zu lassen. Für derart subtile Untertöne hatte Georg allerdings an diesem Morgen kein Gespür, ihn interessierte nur, wie die Geschichte weiterging und wann seine Mutter endlich auf den Punkt, das heißt ihren konkreten Verdacht, kam. Aber die Geschichte zog sich in die Länge.
Nachdem im Nachbarzimmer nichts Spannendes mehr zu beobachten war und die Vorberichterstattung des Fußballspiels begann, hatte sich Gerlinde dazu entschlossen, ihren Spähposten auf dem Balkon zu verlassen. Sie wollte ihren Sohn anrufen. Vielleicht konnte sie mit ihm noch ein wenig über das bevorstehende Spiel fachsimpeln. Sie war ein ebenso großer Fußballfan wie Georg und beide hatten sich gern Spiele zusammen angesehen. Allerdings bevorzugte sie den bequemen Fernsehsessel. Der Besuch im Stadion, zu dem ihr Sohn sie vor einigen Jahren einmal mitgenommen hatte, war nichts für sie. Es war ihr zu laut und die Bänke waren für ihren Geschmack viel zu unbequem.
N ach einiger Zeit wurde die Musik im Nachbarzimmer wieder lauter; Frau Wellensteins Besuch hatte sich offensichtlich verabschiedet.
Georgs Mutter machte eine Pause und sah ihren S ohn erwartungsvoll an. „Das ist aber noch kein Beweis für einen unnatürlichen Tod, das weißt du aber selbst, gell?“, meinte der nur. „Warte mal ab, ich bin noch gar nicht fertig. Hör mir einfach zu.“
Als Gerlinde Haller heute morgen von der Pflegerin erfuhr, dass ihre Nachbarin in der Nacht verstorben und bereits im „Raum zur besonderen Verwendung“ aufgebahrt war, brauchte sie erst ein paar Minuten, bevor ihr die ganze Tragweite dieser Information bewusst wurde. Sie hatte ein komisches Gefühl. Schnell war ihr klar, dass sie ihrem noch recht unbestimmten Verdacht nachgehen musste. Sie fragte bei der Stationsleitung nach dem Schlüssel vom Zimmer ihrer Nachbarin, um sich die CDs zu holen, die sie Frau Wellenstein ausgeliehen hatte. Als Polizisten-Mutter genoss Gerlinde
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