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Todesfuge: Gerda und Otto Königs zweiter Fall (German Edition)

Todesfuge: Gerda und Otto Königs zweiter Fall (German Edition)

Titel: Todesfuge: Gerda und Otto Königs zweiter Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wierlemann
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aber er fand nicht, was er sich wünschte. Er ahnte, dass er sich nach seinen Eltern sehnte. Nach Eltern, die er nie hatte. Seine Suche endete, als er vor drei Jahren die Chiffre-Anzeige der Wellensteins in der Zeitung las. Er wusste es sofort, dass nur er damit gemeint sein konnte und schrieb einen Brief. Seitdem ging er jeden Freitag mit dem Geigenkasten, den Wellenstein ihm zur Tarnung gegeben hatte, zu ihrer Verabredung. Er war angekommen, jedoch noch nicht am Ziel.
    Michael sah auf die Uhr. Er würde sich beeilen müssen, wenn er das Wichtigste nicht verpassen wollte. Tiffi ließ sich nicht zweimal bitten und sprang voller Vorfreude an ihrem Herrchen hoch. Bis in die Innenstadt war es ein ganzes Stück, aber die Bewegung war er Tiffi schuldig. Sie hatte lang genug auf ihren Auslauf gewartet und ihm würde die Ablenkung auch gut tun. Michael wartete geduldig, bis sein Hund überall geschnüffelt und sein Revier markiert hatte. Und Tiffi nahm ihren Job sehr gewissenhaft wahr. „So, meine Kleine, jetzt müssen wir aber wirklich weiter. Die besten Plätze sind sonst besetzt.“ Der Hund sprang munter neben seinem Herrchen her, solange sie gemeinsam spazieren gingen, war ihm jeder Weg recht.
    Es war ein ruh iger Spätnachmittag im Frühsommer. Michael hatte die Innenstadt erreicht und lief durch die Fußgängerzone in Richtung Musikschule. Bis auf die Gäste, die in den Goldenen Hirsch gingen, begegneten Michael keine Menschen. Die zum Empfang Geladenen würden alle mit dem Auto vorfahren.
    Michael wählte nicht den direkten Weg zu seinem Ziel, sondern machte einen Abstecher über den Marktplatz, weil er von hier aus die Möglichkeit hatte, direkt auf die Musikschule zuzulaufen und das Geschehen davor länger im Blick behalten zu können, ohne selbst gesehen zu werden. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Er wusste, das war ein wichtiger Tag für Wellenstein. Den Blick auf die große Freitreppe des repräsentativen Gebäudes gerichtet, verlangsamte er seinen Schritt, so als sei er sich seiner Sache nicht ganz sicher. Tiffi wartete geduldig und passte sich seinem Tempo an. Sie musste instinktiv spüren, dass ihrem Herrchen der Mut fehlte, sich seinem Ziel zu nähern. Michael blieb in sicherer Entfernung im Schutz der kleinen Gasse, die vom Marktplatz auf die Musikschule führte, stehen. Er beobachtete, ohne dass er gesehen wurde.
    Quer über den gesamten unteren Teil der Fa ssade war in dicken Buchstaben Hochmut kommt vor dem Fall gemalt. Der Schriftzug war ungleichmäßig, er wirkte, als sei er in großer Eile angebracht worden. Sofort war die Erinnerung wieder da. Diesen Spruch hatte Michael immer wieder im Heim zu hören bekommen, ohne allerdings genau zu verstehen, was damit gemeint war. Für ihn war damals nur klar, dass er nichts Gutes zu erwarten hatte, sobald dieser Satz fiel. Ganz im Gegenteil. Michael schloss die Augen und machte sie schnell wieder auf, als ob es ihm dadurch gelänge, die Bilder aus seinem Gedächtnis zu tilgen, die gerade wieder mit aller Macht an die Oberfläche seines Bewusstseins drangen. Was damals mit ihm passierte, um ihn vor dem „Hochmut“ zu bewahren, würde er nie vergessen. Diese Wunde trug er mit sich herum, ohne zu wissen, ob sie je verheilen würde.
    Eine dunkle Limousine fuhr vor und parkte direkt vor der Musikschule auf dem reservierten Parkplatz. Michaels Herz schnürte sich zusammen, als Herr und Frau Wellenstein ausstiegen. Michael verfolgte jeden ihrer Schritte und lief etwas näher heran. Esther trug ein enganliegendes schwarzes Kleid, das ihre körperlichen Vorzüge betonte, die Haare waren sorgfältig frisiert. Michael dachte an ihr Treffen vorgestern und die Erinnerung an ihren Körper und ihre Erregung ließen ihn erschauern. Während sie die Treppen hochstiegen, tastete er mit seinen Augen ihre Silhouette ab und stellte sich vor, was sie wohl darunter tragen könnte. Wellenstein sah aus wie immer, er sprach nicht mit seiner Frau und würdigte die Schmiererei an der Hausfassade keines Blickes, als ob sie nicht ihm, sondern den Gästen gelten würde, die bereits im Konzertsaal des prächtigen Stadtpalais Platz genommen hatten. Esther hatte etwas Besseres verdient als diesen Mann! Der Dirigent stieg die Stufen zum Eingang flott empor, während seine Frau mit ihren Stöckelschuhen versuchte, Schritt zu halten. Als Esther umknickte und sich gerade noch am Geländer halten konnte, um nicht zu stürzen, wollte Michael ihr schon zu Hilfe eilen. Wellenstein drehte sich um

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