Todesfuge: Gerda und Otto Königs zweiter Fall (German Edition)
Und ich habe ihm erst gestern Abend noch von deinem Einsatz bei der Verbrecherjagd erzählt. Das muss ihn wohl so beeindruckt haben, dass er uns die Briefe unbedingt sehen lassen wollte.“
Endlich hob Otto den Kopf und überraschte seine Frau. „Gerda, an diese Sache müssen wir systematisch herangehen, wenn wir etwas erreichen wollen. Ich bin gleich wieder da.“
Bevor sie etwas sagen konnte, war er aufgestanden und verschwand aus der Küche. Gerda hörte nur, wie er die Treppe nach unten ging. Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Otto war mit von der Partie; es konnte also losgehen. Sicher würde es ein langer Abend werden, bis alle Briefe genau unter die Lupe genommen waren. Gerda schmierte ein paar Brote und schnitt sie in handliche Häppchen. Der Hunger folgte schließlich seinen ganz eigenen Regeln und sollte sie nicht bei ihrer Arbeit stören.
Otto kam schnaufend in die Küche zurück. Er hatte das angestaubte Flip-Chart aus dem Keller heraufgeholt und wischte es mit einem feuchten Tuch sauber. Er hatte es vor ein paar Jahren für interne Mitarbeiterschulungen gekauft. Damals war er sehr motiviert von einer Fortbildung nach Hause gekommen und wild dazu entschlossen, dem alten Salon, der behäbig seiner Routine folgte, ein wenig frischen Wind zu verpassen. Inzwischen hatte er allerdings eingesehen, dass seine Mitarbeiterinnen auch ohne Kommunikationstraining und selbstgezeichnete Schaubilder einen guten Draht zu den Kunden hatten. Jede von ihnen schlug dabei ihren ganz persönlichen Ton an, aber das schätzten die Kunden im Salon mehr als Uniformität von der Stange. Die einheitliche Arbeitskleidung - ein weiterer von Ottos Modernisierungsversuchen - wurde bereits nach einer Testwoche und vielen verständnislosen Kunden-Kommentaren wieder abgeschafft.
Gerda hatte ihren Mann damals machen lassen und ihm nicht in seine Aktionen hineingeredet. Rückblickend hatte sich Otto eingestanden, dass er bereits an Gerdas deutlich zurückhaltender Unterstützung hätte merken müssen, dass er auf dem Holzweg war. Sie musste seine Unternehmungen für windigen Aktionismus gehalten haben. Aber sie hatte das Scheitern ihres Mannes nicht weiter kommentiert und ohne Häme hingenommen. Allerdings hatte sie ihm mit sanftem Nachdruck die Geschäftsbereiche aufgezeigt, in denen es tatsächlich Handlungsbedarf gab.
Für Otto war klar, wenn Gerda fand, dass sie sich beide diese Schnipsel-Briefe ansehen sollten, dann würden sie das auch tun. Es war für ihn keine Frage, dass er sie nicht hundertprozentig unterstützte und ihre Entscheidung mittrug. Otto hatte inzwischen eingesehen, dass er besser damit fuhr, Gerdas sicherem Urteil nicht zu widersprechen. Allerdings wollte er nicht in der Bemitleidung Wellensteins verharren, denn erstens brachte das keine neuen Erkenntnisse zutage und zweitens konnte er nicht erkennen, warum gerade der Dirigent bemitleidenswert gewesen wäre. Niemand erhielt einfach so Drohbriefe und Otto konnte sich gut vorstellen, dass jemand in Wellensteins Position genügend Gelegenheiten gehabt und genutzt hatte, um sich den Zorn seiner Mitmenschen zuzuziehen.
Weil Gerda eher die Fachfrau für Mitgefühl und Mitleid war - es gab genügend Kundinnen, die genau das an ihr so schätzten - wusste Otto, dass er für die Systematik ihrer Ermittlungen zuständig sein musste. Und so verwandelte er ihre Wohnküche in eine Einsatz- und Ermittlungszentrale. Er positionierte das Flip-Chart neben dem Esstisch und schaltete alle Lichter bis auf die Tischbeleuchtung aus. Nichts sollte sie ablenken.
Das Ehepaar König beugte sich über die Briefe und ließ sie auf sich wirken. Während Otto die Briefe prüfend gegen das Licht hielt, untersuchte Gerda noch einmal die Umschläge, in denen die Drohbriefe bei Wellenstein eingegangen waren. Gerda lehnte sich nach einer Weile zurück und wartete darauf, dass auch Otto signalisierte, dass sie beginnen konnten. Ihr Mann stand auf und stellte sich vor das Flip-Chart. „Wir sollten damit anfangen, zu sammeln, was uns an den Briefen aufgefallen ist und welche Rückschlüsse wir auf den Täter ziehen können.“ Gerda nickte, endlich war dieses alte Teil tatsächlich mal für etwas zu gebrauchen! Otto notierte auf der linken Seite des großen Blocks die Stichworte, die ihnen beiden zu den Briefen einfielen, setzte eine geschweifte Klammer dahinter und schrieb auf die rechte Seite des Blattes „Täterprofil“.
„W as verraten uns diese Klebe-Kunstwerke über den Täter?“ Gerda zuckte
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