Todesgarten
Er fragte sich, ob
die Frau gleich wieder auftauchen würde. Sie hatte so traurig ausgesehen, er
wollte gerne ihre Geschichte erfahren.
»Minuten später kamen die Rettungswagen, und die
Notärzte leiteten MaÃnahmen der Wiederbelebung ein. Das beherzte Handeln schien
zunächst Erfolg zu haben. Die Kinder lieÃen sich reanimieren und wurden in ein
künstliches Koma versetzt. Sandra ist zwei Wochen später aus diesem Koma
erwacht. Ihrem Organismus war es gelungen, sich zu erholen. Alex hingegen hat
es nicht geschafft. Fünf Jahre lag er im Wachkoma. SchlieÃlich wurden die
lebenserhaltenden MaÃnahmen beendet.«
Da war wieder die Frau. Michael betrachtete ihre groÃen
Augen, die elegante Nase und die Locken, die von grauen Strähnen durchzogen
waren.
»Ich dachte, es läge an mir«, sagte sie.
Pause. Dann blickte sie Michael direkt ins Gesicht.
»Ich dachte, es wäre meine Schuld, dass mein Bruder
nicht mehr aufwacht. Ich war überzeugt davon, nur ich könnte ihn ins Leben zurückholen.
Sonst keiner. Er lag da in seinem Bettchen, ganz ruhig, und starrte mich aus
offenen Augen an. Aber er konnte mich nicht sehen. Ich habe zu ihm gesagt:
âºWach auf, Alex! Du bist noch nicht tot! Hörst du? Vielleicht denkst du das ja,
aber das ist nur das Koma. Du bist nicht tot. Wach doch bitte auf, es ist ganz
einfach. Ich habe es auch getan.â¹ Aber er starrte mich einfach weiter an, und
ich wusste einfach nicht, wie ich es ihm begreiflich machen sollte.«
Michael starrte in den Fernseher, fassungslos über die
Geschichte dieser traurigen Frau. Es gab so viele Fragen, die er ihr stellen
wollte. Wichtige Fragen.
Die Frau erwiderte seinen Blick auf eine Weise, als
wollte sie etwas sagen, das nur für ihn bestimmt war. Ein Geheimnis verraten,
das alles erklären würde. Aber dann tat sie es nicht. Stattdessen lächelte sie
traurig und wandte einfach den Blick ab.
»Fünf Jahre danach ist mein Bruder gestorben.«
Ein letztes Mal wurde der Gartenteich eingeblendet,
der Sprecher sagte noch irgendetwas, dann war der Bericht zu Ende. Die Frau kehrte
nicht mehr zurück.
Michael schaltete den Fernseher aus. Es wurde still
und dunkel im Zimmer. Er hörte nur noch seinen schnellen Atem. Sein Herz jagte
in der Brust.
Er durfte keine Zeit verlieren. Mit einem Satz sprang
er aus dem Bett. Es war kurz nach Mitternacht. Er schlüpfte eilig in seine
Hose, zog sich einen Pullover über und verlieà die Wohnung. Er dachte nicht
nach, rannte einfach aus dem Haus, durchquerte den verwilderten Garten seiner
Vermieter, warf sich hinters Steuer seines Golfs und fuhr mit quietschenden
Reifen davon.
Sein Bruder war neun Jahre alt gewesen, als er ihn das
letzte Mal gesehen hatte. Das war kurz nach der Beerdigung seiner Mutter gewesen,
als seinem Vater der Prozess gemacht worden war. Die Jungen kamen in die Obhut
des Staates, sie wurden auseinandergerissen, Michael in ein Heim gesteckt,
Daniel in eine Pflegefamilie verfrachtet. Sie waren so viele Jahre voneinander
getrennt gewesen. Bis zu dem Tag, an dem Daniel im Tiergarten tot aufgefunden
wurde.
Michael war der festen Ãberzeugung, dass sein eigenes
Leben erst in dem Moment begonnen hatte, als die Behörden ihn von seinem alten
Zuhause fortbrachten. An diesem Tag schwor er sich, niemals wieder an die Zeit
davor zurückzudenken. Der Kontakt zu Daniel war abgebrochen, und das war
Michael nur recht. Und beinahe wäre es ihm auch gelungen, alles hinter sich zu
lassen. Die Erinnerungen waren immer seltener zurückgekehrt, und selbst die
Albträume hatten irgendwann nachgelassen. Beinahe war er zu einem neuen
Menschen geworden. Aber eben nur beinahe.
Der Regen hatte aufgehört. Michael raste in Richtung
Stadtmitte. Die StraÃen waren leer, er achtete weder auf rote Ampeln noch auf
Vorfahrtschilder. Er wusste genau, wo er seinen Bruder suchen musste. Es war
nicht mehr weit dorthin.
In den Innenstadtbezirken wurde er gezwungen, das
Tempo zu drosseln. Er durfte jetzt nicht riskieren, von einer Polizeistreife angehalten
zu werden. Der Verkehr wurde dichter, Nachtschwärmer und Partygänger eroberten
die StraÃen. Michael wurde zunehmend ungeduldig. Er arbeitete sich auf den
Hauptverkehrswegen voran, bis er endlich das Zentrum der Stadt erreicht hatte,
den Tiergarten. Von Weitem sah er die Siegesgöttin, die wie ein Stern am Himmel
leuchtete. Er lieà die hellen StraÃen und die belebten Plätze
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