Todesgarten
Es war
Daniel, der dort zwischen den Büschen herumspazierte. Er war hier, um Michael
die Chance zu geben, sich mit ihm auszusöhnen. Er war bereit, ihm zu verzeihen,
jetzt, nach all den Jahren.
Daniel war am Wegesrand stehen geblieben. Stand dort
und wartete darauf, dass Michael sich näherte. Aber dann machte er plötzlich
ein paar Schritte zurück und tauchte in die Dunkelheit der Sträucher ab.
Michael zögerte. Doch wovor sollte er Angst haben? Es gab keinen Grund zu
zaudern. Er blickte sich um und trat ebenfalls ins Gebüsch.
Ãste knackten unter seinen FüÃen, Laub dämpfte den
Tritt. Da war der Schatten wieder, vor ihm zwischen den Bäumen. Er war viel gröÃer
als gedacht. Auch wirkte er aus der Nähe kräftiger. Michael blieb stehen. Da
war etwas in der Bewegung des anderen, etwas, das nicht zu stimmen schien. Er
fixierte den Schatten zwischen den Bäumen. Dann kam er vorsichtig näher. Als er
ihm gegenüberstand, formten sich seine Gesichtszüge aus dem Nichts heraus zu
einem Bild.
Es war nicht Daniel. Dieser Mann hatte keinerlei Ãhnlichkeit
mit seinem Bruder. Natürlich war er es nicht. Das hatte Michael doch die ganze
Zeit gewusst. Was war nur in ihn gefahren?
Er drehte sich um und floh. Schlagartig kehrten seine
Kopfschmerzen zurück. Es war, als hätten sie nur darauf gewartet, dass er
wieder zu Verstand kam. Michael lieà sich auf eine Bank sinken. Sein Bruder war
tot. Daran gab es keinen Zweifel. Es war nichts von ihm geblieben. Nur dieser
seltsame Ort, an dem er gestorben war.
Ein Schatten tauchte neben ihm auf. Es war der Fremde
aus dem Gebüsch, er war ihm gefolgt. Lautlos setzte er sich auf die Bank.
»He, was ist denn los?«, flüsterte er. »Alles in Ordnung?«
Zweige hingen tief über der Bank, in ihrem Schatten
war kaum noch etwas zu erkennen. Michael sah nur die Umrisse des Fremden. Seine
Stimme klang heiser und rau, als er antwortete: »Mein Bruder ist tot. Mein
kleiner Bruder.«
Er schloss die Augen. Die Kopfschmerzen wurden nun
übermächtig.
»Er wurde einfach totgeschlagen. Und ich war nicht da,
um ihn zu beschützen.«
Es war wie damals. Alles wiederholte sich. Kein einziges
Mal war er da gewesen, um ihn zu beschützten. Wenn Daniel geschlagen wurde,
hatte er einfach danebengestanden und nichts getan. Michael hatte damals
gelernt, unsichtbar zu werden. Immer wenn der Vater wie ein wütendes Tier war,
bösartig, schnell und gefährlich, übersprudelnd vor Hass. Wenn er etwas
brauchte, was warm war und einen Herzschlag hatte, damit er darauf einprügeln
konnte. Dann war Michael unsichtbar geworden.
Daniel war das leider nicht gelungen. Mit neun Jahren
hatte es kaum einen Knochen in seinem dürren Körper gegeben, der nicht schon
mal gebrochen war. Keinen Flecken seiner Haut, der noch keinen Bluterguss
gesehen hatte. Daniel war zum Blitzableiter für den Hass des Vaters geworden.
Und Michael hatte unsichtbar danebengestanden und nichts dagegen tun können.
»Er war doch noch so klein. Und ich ⦠ich habe ihn
nicht beschützt.«
8
Sprühregen und ein diesiger Himmel bestimmten das Bild
in der Stadt. Die Luft hatte sich weiter abgekühlt. Immer neue Tiefdruckgebiete
zogen von Westen heran, die Regen und Kälte brachten. Das AuÃenthermometer
seines Golfs zeigte dreizehn Grad an. Nach der Hitzewelle fühlten sich solche
Temperaturen beinahe sibirisch an. Michael rutschte tiefer in den Sitz und rieb
sich die kalten Hände.
Von seinem Standpunkt aus hatte er einen guten Ausblick
auf die StraÃe vor ihm. Hohe Platanen, vereinzelte prachtvolle Mietskasernen
aus der Gründerzeit, dazwischen schmucklose Nachkriegsbauten und kleinere Lücken
und Brachflächen, die den Blick auf Brandwände und Hinterhöfe freigaben. Am
Ende der StraÃe waren die S -Bahntrasse und ein
schmaler FuÃweg zu sehen, der zum S -Bahnhof führte.
Seit Stunden beobachtete er das hohe Portal eines der
Mietshäuser, doch bislang war noch keiner dort aufgetaucht. Es machte ihm
nichts aus zu warten. Die Ruhe an diesem Vormittag war wohltuend, und auch die
Kälte störte ihn nicht besonders. Seine Kopfschmerzen waren wie weggeblasen. In
der vergangenen Nacht hatte er kein Auge mehr zugetan. Die Müdigkeit saà ihm
tief in den Knochen. So war es nicht schlimm, einfach dazusitzen und nichts zu
tun. Es war wie bei einer Observation. Er konnte alle Gedanken aus seinem
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