Todesgarten
verschwand in eines der Zimmer. Michael trat
unschlüssig aus der Küche. Eine weitere Tür führte vom Flur ab, sie war verschlossen.
»Ist da Daniels Zimmer?«, fragte er.
Christoph streckte seinen Kopf durch seine Zimmertür.
»Ja. Möchten Sie es sich ansehen?«
Michael zögerte. »Ich weià nicht.«
»Gehen Sie ruhig rein, wenn Sie möchten. Es ist alles
so, wie er es verlassen hat.«
Er verschwand wieder in seinem Zimmer, und Michael
blieb allein im Flur zurück. Er hielt inne, dann gab er sich einen Ruck und
ging zu Daniels Tür. Die Klinke lag kühl unter seiner Hand. Er atmete durch und
öffnete die Tür.
Im Innern herrschte eine furchtbare Unordnung. Auf dem
FuÃboden lag alles durcheinander. Zeitschriften, CD -Hüllen,
Jeanshosen, Unterwäsche, leere Zigarettenschachteln. Das Bett war zerwühlt, ein
Pizzakarton lag neben den Kissen. Es sah aus, als wäre Daniel nur kurz zum
Einkaufen weggegangen. Mit vorsichtigen Bewegungen trat Michael in den Raum.
Daniel hatte schon damals keine Ordnung halten können.
In ihrem gemeinsamen Kinderzimmer hatte Michael ihm immer hinterherräumen
müssen. Damit ihr Vater keinen zusätzlichen Anlass fand, wütend zu werden. Damit
er nicht wieder um sich schlug. Michael hatte seinen Bruder angefleht, besser
Ordnung zu halten. Aber länger als ein oder zwei Tage hatten dessen Bemühungen
nie angedauert.
Michael nahm ein T -Shirt
vom Sessel und setzte sich. Er wollte die Atmosphäre des Raums erspüren. Die
vielen kleinen Dinge betrachten, die seinem Bruder gehörten. Er lieà seinen
Blick schweifen â und erstarrte.
Unter dem Lattenrost entdeckte er das Ende eines
Schnürsenkels, das am Bettpfosten hervorlugte. Die Erinnerung brach
unvermittelt über ihn herein. Es war seine Idee gewesen. Ihr Vater
kontrollierte einfach alles. Er sah unter die Matratzen, hinter den Schrank,
unter den Teppich, jedes Versteck drohte von ihm entdeckt zu werden. Es gab
scheinbar keine Möglichkeit, etwas vor ihm zu verbergen. Aber Michael hatte
erkannt, dass der Vater niemals auf Knien vor das Bett rutschen und den Lattenrost
abtasten würde. Von da an hatten sie all ihre Schätze zu kleinen Paketen
zusammengepackt und sie mit Schnürsenkeln unter den Lattenrost gebunden. Und
tatsächlich, der Vater hatte dieses Versteck niemals entdeckt.
Wie lange hatte Michael nicht mehr daran gedacht? Bestimmt
seit seiner Kindheit. Und doch trug er die Erinnerung noch in sich. Er kniete
sich eilig neben das Bett und betastete von unten den Lattenrost. Tatsächlich
war ein kleines Bündel an eine Metallstrebe geknotet. Er zerrte an dem Schnürsenkel,
bis der sich löste und das Bündel in seine Hand fiel. Dann lehnte er sich mit
dem Rücken an den Bettpfosten und betrachtete Daniels Schatz, der in ein
Stofftaschentuch gewickelt war.
Hätte Daniel überhaupt gewollt, dass Michael das Bündel
auspackte? Es waren so viele Jahre vergangen seit damals. Vielleicht war dieses
Versteck für einen anderen gedacht, und er missbrauchte hier sein Wissen. Aber
das war nun egal. Er konnte sich nicht zurückhalten, zu groà war die Neugierde.
Er öffnete das Bündel.
Es befand sich zusammengerolltes Papier darin. Obenauf
zwei ineinandergewickelte 100-Euro-Scheine. Offenbar eine Rücklage für
schlechte Zeiten. Darunter war eine Fotografie ihrer Mutter. Ein vergilbtes
Foto aus den frühen Achtzigern. Ihre Züge waren mit der Zeit verblasst,
trotzdem war der ihm vertraute Gesichtsausdruck erhalten geblieben. So hatte er
sie in Erinnerung: den Blick voller Trauer, die Züge seltsam erstarrt. Als wäre
sie weit weg, als nähme sie das Leben um sich herum gar nicht wahr.
Eine Passbild-Reihe aus dem Automaten folgte: zwei
Männer, die sich in die Kabine quetschten. Sie umschlangen sich auf dem engen
Sitz, lachten, zogen Grimassen und küssten sich. Der eine war Daniel, mit
denselben strohblonden Haaren, die er schon als Kind gehabt hatte. Der andere
war offenbar sein Freund. In diesen Bildern war so viel Glück konserviert, dass
es ihm den Atem nahm. Daniel, sein Bruder.
Er drehte den Streifen um. Auf
immer! Dein Gregor stand handschriftlich darauf. Dieser Gregor schien
glücklich zu sein, er war stolz darauf, von Daniel geliebt zu werden, das war
seinem Blick anzusehen.
»Ich bin jetzt so weit!«, rief Christoph Schütz von
drauÃen.
Michael war froh, die Tür
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