Todesgarten
wirkliche
Familie.« Zum ersten Mal lächelte er. »Daniel hat sich seine eigene Familie
geschaffen, verstehen Sie? Seine biologische Familie war wohl ein Albtraum,
also schuf er sich eine soziale Familie. Gemeinsam mit Bärbel, seiner
Pflegemutter. Glauben Sie mir, da hat es mehr Nestwärme gegeben als in vielen
echten Familien. Daniel war ja schon lange ausgezogen, aber sie haben sich immer
noch mindestens einmal pro Woche alle bei Bärbel getroffen.«
Michael schaffte es nicht, ihm ins Gesicht zu sehen.
»Und wer gehörte zu dieser sozialen Familie?«
»Bärbel natürlich und Jens, ihr leiblicher Sohn, der inzwischen
neunzehn ist. Dann ist da noch Opa Günther, der ein paar StraÃen weiter wohnt.
Er ist ein Nachbar, der Daniel praktisch mit aufgezogen hat. Und Ingrid.« Er
lächelte wieder. »Wegen ihr hat sich Bärbel scheiden lassen. Das sagt sie
zumindest. Ingrid war mit Bärbels Mann zusammen, nachdem sie sich getrennt
hatten. Doch als es später auch mit Ingrid aus war, haben sich die beiden irgendwie
angefreundet. Inzwischen sind sie die dicksten Freundinnen, und Ingrid ist
schon vor Jahren in ein Nachbarhaus gezogen. Früher war da noch Gregor, Daniels
erster Freund, und dessen Heterobruder Björn. Björn ist immer noch dabei, er
ist da irgendwie hängen geblieben. Wie so viele, deren eigene Familie kaputt
ist. Na ja, das warâs im Groben. Ganz schön kompliziert, oder?«
Michael versuchte sich diese Familie vorzustellen. Ein
Gespür für ihre Gemeinschaft zu bekommen. Doch es gelang ihm nicht, es blieb
alles dunkel. Er dachte an Magdalene Schöne, seine Adoptivmutter. Diese starke
und sinnliche Frau, die unumstöÃlich wie ein Fels im Leben zu stehen schien. Zu
seinem achtzehnten Geburtstag hatte sie ihm den damals nagelneuen Golf
geschenkt, den er noch immer fuhr. Am Abend vor seinem Auszug stellte sie ihn
in die Auffahrt. Es war der Abend, bevor seine Ausbildung bei der Berliner
Polizei begann. Sie übergab ihm die Schlüssel und lächelte traurig. »Ich
wünsche dir Glück für dein Leben«, sagte sie. Danach umarmten sie sich, und es
war die erste Umarmung, die sich für Michael nicht fremd anfühlte.
Ihr nachdenklicher und distanzierter Blick, mit dem
sie ihn so häufig bedacht hatte, immer dann, wenn sie glaubte, er bemerkte es
nicht, war ihm am längsten in Erinnerung geblieben. »Ich habe stets eine tiefe
Solidarität mit dir gefühlt«, hatte sie später mal zu ihm gesagt, diese Frau,
die ebenfalls eine Kindheit voller Gewalt in sich trug. Für Michael war es, als
wollte sie sich damit für ihr schwieriges Verhältnis entschuldigen. Solidarität
hatte es immer gegeben, wirkliche Liebe allerdings nie.
Er hob den Blick von der Tischplatte und sah Christoph
ins Gesicht. »Wissen Sie, warum Daniel seinen alten Namen behalten hat?«
Christoph sah ihn verständnislos an.
»Na ja, ich meine, er hieà weiterhin Treczok. Hat er
nie darüber nachgedacht, diesen Namen loszuwerden? Er hätte sich doch von
Bärbel Neubauer adoptieren lassen können.«
»Aber wozu? Er hatte doch alles. Eine Familie und ein
sicheres Zuhause. Weshalb hätte er seinen Namen ändern sollen?«
Michael winkte ab. Dieser Christoph kannte ihren Vater
eben nicht. Diesen Unmenschen. Er kannte seine Grausamkeit nicht und auch nicht
seinen Sadismus. Treczok war der Name ihres Vaters. Der Name des Ungeheuers.
Dieser Schütz wusste eben nichts über sie.
Michael räusperte sich. »Ich will Sie nicht länger aufhalten.
Bestimmt möchten Sie zurück nach Babelsberg fahren.«
Christoph stand ebenfalls auf. »Darf ich den anderen
sagen, dass der Typ gestanden hat? Dass es vorbei ist?«
»Natürlich. Das ist jetzt offiziell.«
»Also gut.« Christoph wirkte etwas hilflos. »Ich weiÃ
nicht, ob ich mich der Situation ganz gewachsen fühle. Vielleicht wäre es
besser, wenn einer von der Polizei dabei wäre.«
Michael zögerte. Er war sich nicht sicher, ob er diese
Menschen kennenlernen wollte, die Daniel seine Familie genannt hatte. AuÃerdem
vergröÃerte er damit das Risiko, dass die anderen in der Kommission etwas von
seinem Besuch bei Christoph erfuhren. Aber er konnte ihm den Wunsch nicht
abschlagen.
»Also gut. Ich kann Sie fahren. Mein Wagen steht unten.«
»Danke. Vielen Dank. Ich werde nur ein paar Sachen
holen.«
Christoph
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