Todesgarten
Kopf
fallen lassen und einfach nur darauf warten, dass sich etwas ereignete.
Kurz darauf war es so weit. Ein Mann tauchte am Ende
der StraÃe auf und ging mit schweren Schritten auf das Mietshaus zu. Michael
schätzte ihn auf höchstens fünfundzwanzig. Er hatte ein blasses Gesicht und rot
geschwollene Augen. Er brauchte kein Foto, um zu erkennen, dass es Christoph
Schütz war, Daniels Mitbewohner.
Er wartete, bis er hinter dem alten Eingangsportal verschwunden
war, dann verlieà er den Wagen und näherte sich dem Haus. Er wollte Christoph
etwas Zeit geben, er sollte nicht merken, dass Michael auf ihn gewartet hatte.
Ein alter Mann öffnete die Tür und trat ins Freie. Michael nutzte die Gelegenheit
und schlüpfte ins Haus. Dann schlich er über die alten hölzernen Treppen hinauf
in den dritten Stock. Er lauschte an der Tür, doch es war nichts zu hören.
SchlieÃlich klopfte er. Drinnen schlurfte jemand über die Holzdielen, dann
öffnete sich die Tür, und der blasse, hagere Mann erschien auf der Schwelle.
»Entschuldigen Sie die Störung. Ich bin von der Polizei.
Wir ermitteln im Mordfall Treczok.«
Der Mann schien mit seinen Gedanken weit weg zu sein.
»Möchten Sie hereinkommen?«, fragte er schlieÃlich.
»Sagen Sie mal, haben Sie nicht gestern jemanden festgenommen?«
»Ja, das ist richtig.«
»Und? War er es?«
»Vielleicht können wir drinnen miteinander reden?«
»Oh. Entschuldigung.«
Er lieà Michael herein und führte ihn durch den langen
Altbauflur in die WG -Küche. Die Wände waren bunt gestrichen
und mit zahllosen Bildern behängt. Alles war in warmes Licht getaucht. Auch die
Küche war liebevoll eingerichtet, mit bemalten Schränken und bunten Vorhängen.
Gerne wäre Michael stehen geblieben und hätte alles ganz genau betrachtet. Aber
er wollte sich nicht zu auffällig verhalten. Schlimm genug, dass er überhaupt
hier war. Das durfte keiner in der Kommission erfahren.
»Möchten Sie etwas trinken?«
»Nein, danke.«
Christoph lieà sich auf einen Küchenstuhl sinken. Er
wirkte unendlich erschöpft. »Ich habe nicht viel Zeit. Es ist ein Zufall, dass
Sie mich überhaupt hier antreffen. Ich wollte nur kurz etwas aus der Wohnung
holen.«
Michael setzte sich ebenfalls. Sein Blick fiel auf die
Fotos und Postkarten, die überm Küchentisch an der Wand klebten. Auch Bilder
von Daniel waren dabei. Das versetzte ihm einen Stich.
»Ich möchte nicht unhöflich sein«, sagte Christoph.
»Aber weshalb sind Sie gekommen? Was wollen Sie von mir wissen?«
Es gab unendlich viel, was er wissen wollte. Nicht umsonst
hatte er stundenlang vor dem Haus gewartet. Er wollte wissen, wie sein Bruder
gelebt hatte. Was für ein Mensch aus ihm geworden war. Wie es mit seinem Leben
weitergegangen war, nachdem sie als Kinder getrennt worden waren. So viele Fragen,
aber er wusste nicht, wie er sie stellen sollte.
»Der Täter hat gestanden«, sagte er. »Er wird
angeklagt werden.«
»Den Typen, den Sie gefasst haben? Dann hat der tatsächlich
Daniel erschlagen? Hat er gesagt, weshalb?«
»Er gehörte einer Bande an. Ein paar Jugendliche, die
Raubüberfälle auf Homosexuelle unternommen haben. Das Motiv für den Mord war
offensichtlich Schwulenhass.«
Christophs Blick verlor sich. »Schwulenhass.«
Er blinzelte. Ein Tränenfilm überzog seine Augen. Michael
war plötzlich froh, für einen der ermittelnden Polizisten gehalten zu werden.
Das verschaffte ihm Distanz.
»Gibt es jemanden, der sich um Sie kümmert?«
Christoph nickte. Er wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
»Es geht schon.«
»Soll ich denjenigen verständigen?«
»Nein, ich â¦Â« Er holte tief Luft und nahm sich zusammen.
»Ich fahre gleich wieder mit der S -Bahn zurück. Zu
Bärbel nach Babelsberg. Alle sind zurzeit bei ihr. Selbst ich darf dabei sein.«
»Alle? Wen meinen Sie? Und wer ist Bärbel?«
»Oh, Entschuldigung. Ich dachte, Sie wüssten das. Bärbel
Neubauer ist Daniels Pflegemutter. Sie hat seine ganze Familie zusammengetrommelt.
Wir sitzen den ganzen Tag da und reden. Ãber Daniel.«
»Seine Familie? Bei den Ermittlungen kam heraus, dass
seine Eltern seit Langem tot sind. Geschwister hatte er auch nicht. Zumindest
gab es keinen Kontakt mehr.«
»Doch nicht diese Leute. Ich meine seine
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