Todesgarten
Oder bildete sie sich das ein?
Sie ging in die Küche und warf einen Blick in den
Ofen. Die Pizza war kalt und fettig und klebte am Backblech. Sie schloss die
Klappe und begnügte sich mit dem Kaffee. Jürgen würde heute mit ihr zusammen
auf Streife sein. Es gäbe sicherlich genügend Möglichkeiten, unterwegs etwas zu
essen. Sie stellte sich ans Fenster. Unten vorm Haus war Tom. Er schwang sich
auf sein Rennrad, fuhr in den Park und verschwand unter den Baumkronen.
Die Einsamkeit in der Wohnung brachte sie auf eine
Idee. Sie ging ins Schlafzimmer. Vor der alten Truhe blieb sie stehen. Unter
seiner Kleidung bewahrte Tom seine privaten Sachen auf. Sie waren für Anna
tabu, genau wie die Narbe auf seinem Rücken. Etwas befangen betrachtete sie die
Truhe. Wenn sie irgendwo einen Hinweis finden würde, dann zweifelsfrei hier.
Sie atmete durch. Dann überwand sie ihre Scheu und hob
den Deckel der Truhe mit einer einzigen kraftvollen Bewegung an.
16
Michael wusste mit dem Tag nichts anzufangen. Er war
den ganzen Vormittag in der Stadt unterwegs gewesen. Ohne Ziel hatte er sich
treiben lassen. SchlieÃlich war er in einem Hamburgerrestaurant am
Alexanderplatz gelandet, von wo aus er das Geschehen auf dem Platz beobachtete.
Ein paar Punks saÃen mit Hunden am Brunnen, Hausfrauen eilten mit ihren
Einkäufen vorbei, und an einer Mauer standen zwei Zeugen Jehovas, die sich Zeitschriften
vor den Bauch hielten. Es war eine ungewohnte Situation, mitten in der Woche am
späten Vormittag irgendwo in der Stadt zu sein und nichts zu tun. Aber alles
war besser, als zu Hause zu sitzen und zu grübeln.
Seine Gedanken wanderten immer wieder zu seinem
Bruder. Am liebsten hätte er sich mit der Mordermittlung von seinen Grübeleien
abgelenkt, aber Bernd Neubauer lag vernehmungsunfähig auf der Intensivstation,
und alle warteten darauf, dass er aufwachte und ihnen erzählte, weshalb er nach
Berlin gekommen war. Eine andere relevante Spur gab es nicht.
Appetitlos stocherte Michael in seinen Pommes herum. Eigentlich
war er nur deshalb am Alexanderplatz, weil er vorher durch das Wohnviertel
gekurvt war, in dem Lisa wohnte. Es lag nur ein paar hundert Meter entfernt. Er
war an ihrer Wohnung vorbeigefahren, um einen Blick durch die Fenster zu
erhaschen. Doch von der StraÃe aus schien alles verwaist.
Er schob das Tablett zur Seite und nahm seine Tasche
auf den SchoÃ. Am Morgen war er in einem Kiosk über die »Siegessäule«
gestolpert, eine Zeitschrift aus der schwullesbischen Szene Berlins. Er hatte
sie mitgenommen und blätterte nun darin herum. Irgendwie fühlte er sich Daniel
dabei nah, so als würde er seine Welt betreten. Es gab eine Menge Artikel über
das Leben in der Stadt, einen GroÃteil der Zeitschrift machte jedoch ein Veranstaltungskalender
aus. Alle Partys waren aufgeführt, eine endlose Liste. Michael war nicht klar
gewesen, dass man an jedem einzelnen Wochentag zwischen zahllosen einschlägigen
Partys auswählen konnte. Einer der Veranstaltungsorte war der Kink Klub. Auf
den letzten Seiten waren Schnappschüsse von Partyleuten zu sehen. Lauter schöne
und stylische Menschen, die in irgendwelchen angesagten Läden feierten. Auch
hier tauchte er mehrmals auf, der Kink Klub.
Michael stutzte. Da war Daniel. Auf einem Foto mit den
anderen Barkeepern des Klubs. Sie standen um ihn herum und grinsten. Er bildete
das Zentrum des Fotos. Seine Augen leuchteten, alles an ihm strahlte Selbstsicherheit
aus.
Michael fuhr mit dem Finger über das Foto. Wie hatte Daniel
es nur geschafft, sein Leben in vollen Zügen zu genieÃen? Offenbar hatte er
ihre gemeinsame Geschichte einfach abgelegt. Wie einen alten Mantel. Und danach
hatte er sich ins Leben gestürzt.
Das Handy klingelte. Er kramte es aus der Tasche hervor
und sah aufs Display. Unbekannter Teilnehmer. Nach kurzem Zögern ging er ran.
»Christoph Schütz hier. Ich hoffe, ich störe nicht?«
»Nein, nein. Worum geht es denn?«
»Ich wollte Ihnen nur sagen, dass Daniel übermorgen
bestattet wird. Zuerst gibt es eine Zeremonie im Krematorium, und danach lädt
Bärbel zu einer kleinen Trauerfeier ein. Ich dachte, vielleicht möchten Sie ja
auch kommen.«
Michael dachte an die vielen fremden Menschen, die
dort wären. Lauter unbekannte Gesichter. Daniels Familie, seine Freunde und
Wegbegleiter.
»Ich weià nicht.«
»Ich könnte Bärbel von Ihnen
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