Todesgott
wegen des schlechten Rufs. Hier steht für alle viel auf dem Spiel. Und für manche noch mehr.«
»Wer ist der Besitzer?«
»Weißt du das nicht?«, sagt Óskar verblüfft. »Der große Häuptling.«
»Wirklich?«, frage ich. »Aber Ásgrímur wird doch wohl nicht den Sohn des Stadtratsvorsitzenden, seines besten Freundes und Verbündeten, vor die Tür setzen?«
»Hier gibt es nur einen Machthaber. Und Machthaber wissen, wo es sich lohnt zu investieren. Das ist ja die Kunst.«
»Gut gesagt. Was ist denn aus dem Freizeitparadies geworden, das auf Ásgrímurs Grund und Boden am Ortsrand gebaut werden sollte?«
»Nichts. Ásgrímur hat das Gelände für eine Riesensumme an Industral und die beteiligten Bauträger für Arbeiterunterkünfte verpachtet.«
So ist das also.
Das Reyðin sieht aus wie ein ehemaliges Lagerhaus. Man könnte sagen, dass es dieselbe Funktion unter veränderten Bedingungen hat. Aber das sage ich nicht.
Das Holz ist abgeschliffen, Pfeiler und Balken ziehen sich der Länge nach durch den schmalen Saal mit der hohen Decke. An den Seiten stehen in zwei Reihen Holztische und Stühle, dazwischen liegt ein Gang, und am Ende des Saals steht eine wuchtige Theke.
Ich überlege, ob die neue multikulturelle Einwohnerschaft dafür gesorgt hat, dass die Kneipe am hochheiligen Palmsonntag geöffnet ist. Etwa zwanzig Gäste sitzen an sechs Tischen verteilt; viele trinken Bier, einige Kaffee. Die meisten sind Männer und Isländer, aber auch ein paar fremde Sprachfetzen dringen durch das Stimmengewirr. Aus den Lautsprechern dröhnt Bubbi Morthens.
Jóa und ich haben vorher abgesprochen, dass sie sich mit der Kamera in eine Ecke setzen, sich unauffällig verhalten und auf eine günstige Gelegenheit warten soll. Ich gehe zur Theke, wobei ich das Gefühl habe, keine besondere Aufmerksamkeit zu erregen. Hinter dem Tresen steht ein bildhübsches junges Mädchen, das mich lächelnd fragt, was ich haben möchte.
»Eine Cola, bitte.«
Nachdem die Bestellung erledigt ist, sage ich leise, aber ohne zu flüstern, dass ich Agnar Hansen suche.
Sie lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. »Aggi!«, ruft sie hinüber zu einem Tisch, an dem zwei junge Männer mit Bierkrügen sitzen. »Hier ist jemand für dich.«
Ich gehe zu dem Tisch. »Ich heiße Einar, vom
Abendblatt
. Wer von euch ist Agnar?«
Ich merke sofort, dass die Frage überflüssig ist.
»Ich«, knurrt der eine. Sein blondes Haar ist zu einem Zopf gebunden. Irgendwann muss er einmal durchtrainiert gewesen sein, aber jetzt sind seine Muskeln schlaff, und seine Körperkraft hat nachgelassen, sein Gesicht ist aufgedunsen, rot und verquollen. Am Handgelenk seines rechten Arms trägt er einen schmutzigen Verband; sein linker Handrücken ist verletzt. Er hat ein blaues Muscleshirt und Jeans an. Keine Tätowierung. Kein Hakenkreuz.
Agnar sitzt etwas merkwürdig da, so als hätte er Schmerzen im Genitalbereich.
»Entschuldigt, wenn ich störe. Darf ich mich kurz zu euch setzen?«
Der andere Kerl, offenbar ein bisschen jünger als Agnar, steht auf und geht weg.
Agnar deutet auf den leeren Stuhl. »Willst du über diesen miesen Überfall auf mich am Freitag berichten?«, fragt er mit rauher Stimme. Er hat lange, vorstehende Schneidezähne und trägt am Oberkiefer eine Zahnspange.
»Genau«, antworte ich und schenke ihm mein freundlichstes Lächeln. »Wärst du bereit, mir davon zu erzählen?«
»Na klar«, sagt er und schaut mich mit blutunterlaufenen blauen Augen an.
Ich schalte das Aufnahmegerät ein, und er beginnt, von den Beschimpfungen, der Prügel und den Attacken zu berichten, die er, ein unschuldiger Mitbürger, an jenem Abend über sich ergehen lassen musste. »Siehst du, wie sie mich zugerichtet haben?«, fragt er empört und zeigt mir seine Verletzungen.
»Ja, sehe ich.«
»Und das ist nur ein Teil davon.«
»Wer hat denn angefangen?«, frage ich.
Er nimmt einen großen Schluck Bier. »Weiß ich nicht mehr, Mann. Aber guck doch mal, wie ich aussehe!«
»Hast du es nicht selbst mit angezettelt?«
Er schüttelt den Kopf und schlägt mit der geballten Faust auf den Holztisch, so dass der Bierkrug wackelt und mein Colaglas umkippt. »Mit diesen Typen kann man einfach nicht reden.«
»Welche Typen?«
»Hör zu, druck ein Bild von mir ab. Dann sehen die Leute, wie diese Typen drauf sind.«
Ich winke Jóa zu uns. Aus Agnar Hansen ist kein vernünftiges Wort herauszubekommen.
Ich verabschiede mich, ohne dass er es überhaupt wahrnimmt.
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