Todesgott
Kinder. Und Jugendliche. Alle haben ihre Lebensberechtigung.«
»Da stimme ich dir vollkommen zu, aber«, füge ich hinzu, »warum hast du mich angerufen?«
Gunnhildur wird zornig und spricht lauter, so dass ihre Stimme immer schriller und unangenehmer wird. »Weil die Polizei mich abgeschrieben hat! Nicht mehr und nicht weniger. Einfach so! Abgeschrieben!«
»Warum denn?«
»Ich hab ihnen gesagt, dass meine Dísabjörk nicht an den Unfallfolgen gestorben ist.«
»So?«
»Und ich weigere mich!«, schreit sie in den Hörer. »Ich weigere mich, mich abschreiben zu lassen, bevor ich Gottes erbärmliche Erde im Sarg verlassen habe!«
»Aber warum hast du das denn gesagt? Dass deine Tochter nicht an den Unfallfolgen gestorben sei?«
Sie senkt ihre Stimme wieder und flüstert mir mit dramatischem Unterton ein Geheimnis zu: »Weil sie ermordet wurde, mein Junge. Kaltblütig ermordet. So kaltblütig, wie ein Mensch überhaupt nur sein kann.«
[home]
8
Karfreitag
A m Anfang war der Wunsch.
Im Laufe des Karfreitags hege ich in erster Linie den schlichten, frommen Wunsch, den Tag zu überstehen, indem ich nichts tue. Nicht einen einzigen verfluchten Handgriff – falls mir diese Formulierung am heutigen Tag gestattet ist.
Aber wie wir alle wissen, gehen nicht immer alle Wünsche in Erfüllung.
Auf dem Wohnzimmertisch liegt ein Zettel mit der Aufschrift: »Bin weg, um Du-weißt-schon-wen zu treffen. Sehe dich hoffentlich heute Abend.« Neben dem Zettel liegen Gebäck und Leckereien, die Jóa in irgendeinem Laden gekauft hat, der an Feiertagen geöffnet ist. Wahrscheinlich an der Tankstelle. In meiner Jugend gab es an Tankstellen ausschließlich Kraftstoff für Autos. Heute gibt es dort wohl überwiegend Kraftstoff für Autofahrer.
Ich lange zu, öffne die Tür zum Garten, setze mich mit Kaffeetasse und Zigarette an den Holztisch auf die kleine Terrasse und aale mich in der Sonne, die genauso kräftig scheint wie gestern. Die Skiläufer auf dem Hlíðarfjall hätten ebenso gut auf die Kanarischen Inseln fahren können. Im Nachbargarten spielen Kinder Fußball. Computer und Technologie halten die junge Generation immer noch nicht vom Spielen ab. Noch nicht.
Nach einer halben Stunde stillen Genießens halte ich es nicht mehr länger aus. Ich überprüfe die Futter- und Wasservorräte der Frau, mit der ich mein Schlafzimmer teile, und verabschiede mich von ihr mit den Worten, ich sei zum Abendessen wieder zurück.
POLIZEI steht auf dem Schild über dem Eingang eines langen, weißen, zweistöckigen Betonklotzes in der Þórunnarstræti mit blaugestrichenen, quadratischen Flächen unter den Fenstern. Das Haus sieht, mit kleinen Abweichungen, so aus wie die Miniaturausgabe eines ebensolchen Klotzes der Polizeiwache in der Hverfisgata in Reykjavík.
Ich stelle mich am Empfang vor und werde kurz darauf ins Büro von Hauptkommissar Ólafur Gísli Kristjánsson geführt. Er ist ein großer Mann um die vierzig mit scharfen Gesichtszügen und rasiertem Schädel, der ein hellblaues Polizeihemd und eine große Brille mit breiten, schwarzen Rändern trägt, wie sie zur Zeit Buddy Hollys und anderer Rock-’n’-Roll-Musiker in den fünfziger und sechziger Jahren modern waren. Er hat eine Adlernase, Grübchen und auseinanderstehende obere Schneidezähne. Mit ernstem Gesicht bietet er mir einen Stuhl an.
Mit diesem Mann ist bestimmt nicht zu spaßen. Die Augen hinter seiner Brille blicken mich argwöhnisch an.
»Ich wollte mich über die Suche nach Skarphéðinn Valgarðsson erkundigen«, beginne ich.
Er kreuzt die Arme über dem kräftigen Brustkorb. Hier erfährst du gar nichts, signalisiert seine Körperhaltung. Aus mir kriegst du nichts heraus. »Da waren wir leider noch nicht erfolgreich«, antwortet er mit tiefer Stimme und im singenden Rhythmus der Nordisländer.
»Sind viele an der Suche beteiligt?«
»Sämtliches verfügbare Personal ist im Einsatz, sowohl von der Polizei als auch vom Rettungsdienst. Das sind cirka zwanzig Mann.« Er stützt sich auf den Schreibtisch mit den geordneten Aktenstapeln und dem überdimensionierten Computer.
»Habt ihr irgendwelche Hinweise, was ihm zugestoßen sein könnte?«
»Du bekommst genau dieselbe Antwort wie deine Kollegen vom Rundfunk, der
Gratiszeitung
und dem
Morgenboten
. Wir geben zum jetzigen Stand der Ermittlungen noch keine Presseinformationen heraus.«
Ich überlege.
Beschließe dann, etwas mehr Druck zu machen, und frage höflich: »Weil ihr keine
Weitere Kostenlose Bücher