Todeshaus am Deich
Es gibt auch die anderen, die noch voll am Leben
teilnehmen. Mit denen können Sie alle aktuellen Probleme diskutieren. Es ist
schade, dass man das geballte Wissen und die Erfahrung eines erfolgreichen
Lebens ungenutzt in die Ecke stellt. Niemand möchte etwas von den ›Alten‹
hören, geschweige denn lernen. So werden wir als nutzlos abgestellt und in
irgendeinem Seniorenheim bis zum Tod aufbewahrt.«
Aus der Stimme des Mannes war deutlich die
Verbitterung zu hören. »Uns braucht keiner mehr. Wir sind zu nichts mehr nütze.
Unfähig, noch große Dinge zu bewältigen.«
»Sie selbst scheinen ein Vertreter des vitalen Teils
der älteren Generation zu sein«, sagte Christoph und sah dabei auf die
Computeranlage.
»Ich versuche, mich den Herausforderungen der Zeit zu
stellen. Ich arbeite mit Begeisterung am Computer und surfe im Internet. Ich
filme mit dem Camcorder und bearbeite die Filme. Weiterhin bin ich Mitglied in
einem Forum, das im Internet selbst geschriebene Kurzgeschichten veröffentlicht
und diskutiert. Und auch mein Handy benutze ich nicht nur zum Telefonieren.«
»Glauben Sie nicht, dass es viele ältere Menschen
gibt, die sich ähnlich wie Sie betätigen?«
»Das nimmt uns doch niemand ab – da draußen.«
»Und weshalb haben Sie sich in eine Seniorenresidenz
zurückgezogen? Sie machen den Eindruck, als könnten Sie Ihr Leben durchaus
eigenständig meistern – da draußen, wie Sie sagen.«
Von Hasenteuffel-Stichnoth seufzte. »Ich war viermal
verheiratet. Lassen wir die Gründe dafür undiskutiert. Das hat mich einen
erklecklichen Teil meiner Pension gekostet. Und meine Beziehung zur Familie
derer von Hasenteuffel. Man hat mich unter Druck gesetzt. Entweder ich gehe ins
Altersheim – hier, am Ende der Welt – und die Familie bezahlt meinen
Aufenthalt, oder ich muss selbst zusehen, wie ich zurechtkomme.«
»Woher stammen Sie?«
»Aus Waldhessen.«
»Und was hat Sie nach Husum geführt?«
Der Baron schwieg lange, bevor er antwortete. »Die
Rache meiner Sippe. Die wollten mich in die Einöde schicken.« Er lachte bitter
auf. »Aber die haben sich getäuscht. Wenn die wüssten, dass dieser Flecken Erde
das Paradies ist, dann würden die sich vor Wut selbst in den Hintern beißen.
Denen werde ich es noch zeigen. Die werden noch staunen, was der alte Wilhelm
zustande bringt.«
*
Der hinter dem Deich wehende Westwind trug fische
Seeluft über das Watt. Christoph stand an der offenen Autotür und sah den
Wolken nach, die ständig ihre Formen und auch Farben veränderten. Dazwischen
war ein klares, tiefes Blau zu erkennen. Wenn die Märzsonne eine Lücke zwischen
den Wolken fand, hatte sie schon genügend Kraft, um mit der ersten
schmeichelnden Wärme des Jahres Geschmack auf den Frühling zu machen.
Christoph liebte diese Jahreszeit, selbst wenn es
zwischendurch grau zuzog und man immer noch im Pullover herumlief, während das
Fernsehen vom Einzug des Frühlings an der Bergstraße berichtete. Es war der
Wind, der es in dieser Region immer ein wenig kühler erscheinen ließ, als es
tatsächlich war. Doch wer einmal in den Großstädten die stickige Luft
eingeatmet hat, die Mischung aus Industrie- und Autoabgasen, die mangels
Luftbewegung wie eine Dunstglocke über den Städten hing, der würde sich
zurücksehnen an die Küste mit ebendiesem stetig spürbaren Wind.
Christoph hatte sich nicht nur an Nordfriesland
gewöhnt, nein, er konnte sich mittlerweile nicht mehr vorstellen, woanders zu
leben. Wie schwer war es ihm gefallen, als er gegen seinen Willen hierher
versetzt wurde, in die Provinz. Heute wollte er um keinen Preis das weite Land
und seine Bewohner mehr missen.
Er sah zu Große Jäger hinüber, der auf der anderen
Seite des Kombis stand, sich lässig auf dem Wagendach abstützte und den Rauch
einer Zigarette inhalierte. Der Oberkommissar hatte darauf bestanden, seinen
Nikotinbedarf an Ort und Stelle zu befriedigen, obwohl es bis zur Dienststelle
nur wenige Fahrminuten waren.
Große Jägers Blick verlor sich in der Ferne und wanderte
über die grüne Marsch.
Die beiden Beamten wurden in ihren Betrachtungen durch
einen weißen Peugeot älterer Bauart unterbrochen, der aus Richtung Husum kam
und vor dem Haupteingang hielt. Ein mittelgroßer Mann, leger gekleidet,
entstieg dem Fahrzeug und schlenderte auf die Eingangstür zu, ohne sich der
Mühe zu unterziehen, sein Auto abzuschließen. Er hatte die sich selbsttätig
öffnenden Glaselemente noch nicht erreicht, als drei Männer ins
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