Todeshaus am Deich
Wollen Sie sehen?« Tho wühlte in der Innentasche seiner
Jacke.
Große Jäger winkte ab.
»Danke. Lass mal stecken.«
»Ich wohne mit Freunden in einer Wohnung in der
Nordhusumer Straße«, erklärte der junge Mann. »Nicht groß, aber es geht. Die
Wohnung gehört der Ausländerbehörde. Leider lese ich keine deutschen Zeitungen.
Darum habe ich nicht gewusst, dass die Polizei Thorben sucht. Er hat bis heute
Morgen bei uns geschlafen. Dann hat Jimbo, ein Kollege aus Togo, der auch bei
uns wohnt, eine alte Zeitung mitgebracht. ›Bist du das, den die Police sucht?‹,
hat Jimbo Althoff gefragt. Darauf hat Thorben seine Sachen gepackt und ist ganz
schnell weg.«
»Wissen Sie, wo er jetzt untergeschlüpft ist?«, fragte
Große Jäger.
Tho machte ein trauriges Gesicht. »Nein, leider nicht.
Aber ich glaube nicht, dass Thorben weggefahren ist. Er hat noch weniger Geld
als wir.«
»Als Althoff das Haus verließ – in welche Richtung ist
er gegangen?«
Der Vietnamese freute sich, dass er Große Jägers Frage
beantworten konnte.
»Ich habe hintergeguckt und mich gewundert. Thorben
ist nach links gegangen.«
»Das ist merkwürdig«, sagte der Oberkommissar mehr zu
sich selbst. »Die Nordbahnhofstraße, Westerende oder selbst die Deichstraße,
die alle irgendwie ins Zentrum führen, wären erklärlich gewesen. Aber die
Nordhusumer Straße? Da folgen nur ein paar Wohnhäuser, ein wenig Gewerbe …
Wohin könnte sich Althoff gewandt haben? Viel gibt es in dieser Richtung nicht
mehr. Was ergibt das für einen Sinn?« Dann wandte er sich an den hilfsbereiten
Vietnamesen.
»Vielen Dank, Herr Tho. Sie haben uns sehr geholfen.
Meine Kollegin und ich werden Sie jetzt nach Hause bringen und Ihre Mitbewohner
befragen. Vielleicht weiß von denen jemand, wohin Thorben Althoff verschwunden
ist.«
Die Augen des Vietnamesen weiteten sich. »Das ist
vielleicht nicht gut, wenn alle Nachbarn sehen, dass mich die Police zu meiner
Unterkunft zurückbringt.«
»Keine Sorge, wir fahren nicht mit dem Streifenwagen,
sondern mit einem neutralen Fahrzeug. Niemand wird wissen, dass Sie der Polizei
geholfen haben.«
Tho sah erleichtert aus. »Das ist gut«, sagte er.
*
Von Hasenteuffel hatte sich umgedreht. Christoph tat
es ihm gleich. Es war schwer abzuschätzen, wie weit sie über den Deich gegangen
waren. Der Volvo war nur noch als kleiner schwarzer Punkt am Horizont zu
erkennen.
»Wir sollten den Rückweg antreten«, schlug der Baron
vor und ging los, ohne Christophs Antwort abzuwarten.
Nachdem Christoph sich mit zwei raschen Schritten
wieder an seine Seite begeben hatte, fragte er: »Wissen Sie, wer die kleinen
Aufregungen im Heim verursacht hat? Das versalzene Abendessen? Die
Reinigungsmittel in der Küche? Oder den Kurzschluss? Wer ist daran
interessiert, Unruhe zu stiften?«
Von Hasenteuffel lächelte. »Das ist eine gute Frage.
Vielleicht ist sie aber nicht so wichtig wie die Erklärung, wie und weshalb
Trude Beckerling in die Wohnung ihrer Nichte gekommen ist. Möglicherweise
hängen die Dinge auch nicht zusammen.« Er warf Christoph einen Seitenblick zu.
»Ihr Beruf ist gar nicht so uninteressant. Sie werden dafür bezahlt, dass Sie
Rätsel lösen. Viele der Alten bei uns opfern einen Teil ihres Taschengeldes für
Kreuzworträtselhefte, um die Zeit totzuschlagen. Diese verdammte Zeit, von der
Sie plötzlich zu viel haben. Keiner möchte sie mit Ihnen teilen. Da ist es fast
schon eine willkommene Abwechslung, wenn jemand auftaucht und Ihnen Gesundheit
bringende Wundersteine für ein horrendes Geld verkaufen will. Kubelka, auch
wenn ich nichts von ihm halte, hat aufgedeckt, dass es sich um einen schlichten
Salzstein mit einer batteriebetriebenen Leuchte handelte. Leider ist Kubelka
mit seinem unbändigen Jähzorn auf den Händler losgegangen und hätte ihn mit
seinem Stock verprügelt, wäre nicht das Heimpersonal eingeschritten. Frau
Wernicke, eine gutmütige andere Bewohnerin, wäre fast auf den Enkeltrick hereingefallen.
Sie hat sich über das plötzliche Interesse des vermeintlichen Enkels an ihrer
Person so gefreut, dass sie bedenkenlos Geld von ihrem Konto abgehoben und dem
unbekannten Anrufer ausgehändigt hätte, nur weil der versprach, seine Oma zu
besuchen. In diesem Fall bin ich eingeschritten, habe die Frau zur Bank
begleitet und den Abholer des Geldes zur Rede gestellt. Der Mann hat geschimpft
wie ein Rohrspatz und gedroht – wörtlich –, uns alte Säcke alle machen zu
wollen.«
Komisch, dachte Christoph.
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