Todeshaus am Deich
abhängt, stößt
auf mein Unverständnis. Es ist doch eine absolute Diskriminierung, dass
beispielsweise die privaten Fernsehsender bewusst Menschen ab fünfzig als nicht
mehr werberelevant ausgrenzen. Stellen Sie sich vor, welche Revolution es
auslösen würde, wenn alle Omas und Opas stringent die Verwendung der Mittel
vorgeben würden, die sie Kindern und Enkeln zukommen lassen, und nur noch
solche Produkte kaufen, die auch den Alten zugänglich sind.«
»In manchen Bereichen ist es doch gelungen. So finden
wir heute viele ältere Verkehrsteilnehmer …«
»… die als unsichere Kantonisten verspottet werden«,
fiel der Baron Christoph ins Wort.
»Sie haben einen eigenen Pkw.«
»Selbstverständlich«, kam die prompte Antwort.
»Damit unternehmen Sie aber keine weiten Fahrten?«
»Wohin auch? Mein Aktionsradius ist durch die Art der
Lebenssubventionierung, wie meine Familie sie betreibt, beschränkt.«
»So nutzen Sie Ihren Wagen nur für Ausflüge in die
nähere Umgebung?«
»Ja.«
»Und gelegentlich haben Sie auch Frau Beckerling
mitgenommen?«
Ein Ruck ging durch von Hasenteuffel.
»Das war kein intelligenter Ansatz«, stellte er fest,
»um herauszufinden, ob ich derjenige war, der die alte Frau in die
Wohnung ihrer Nichte gefahren hat. Natürlich würden Sie jede Menge Spuren der
Toten in meinem Wagen finden. Aber – dafür gibt es eine Erklärung.« Er zeigte
auf Christoph. »Sie haben sie eben genannt. Im Übrigen … Schwester Regina hat
Trude Beckerling auch öfter mitgenommen.«
Davon hatte sie nichts gesagt, als sie bei uns auf der
Dienststelle vorstellig geworden war und beiläufig erwähnte, dass von
Hasenteuffel öfter mit Frau Beckerling unterwegs gewesen war, dachte Christoph.
Sie hatten die Hauke-Haien-Residenz erreicht, und
Christoph hielt direkt vor dem Eingang. Der Baron hatte seinen Gurt gelöst und
suchte den Griff, um die Autotür zu öffnen, als Christoph ihn fragte: »Wer sind
Sie, Herr von Hasenteuffel-Stichnoth?«
Überrascht ließ der Mann seine Hand wieder in den
Schoß fallen und sah Christoph an. Dann fuhr er sich mit der Zunge über die
Lippen. Es war offensichtlich, dass er eine solche Frage nicht erwartet hatte.
»Das möchte ich auch gern wissen«, antwortete er nach
einer ganzen Weile. Er sprach gedehnt. Es wirkte, als würde er trotz der
reiflichen Überlegungszeit für die Erwiderung immer noch nach den richtigen
Formulierungen suchen. »Die Frage stelle ich mir seit sechzig meiner
zweiundsiebzig Lebensjahre.« Von Hasenteuffel sah angespannt durch die Scheibe
nach vorn, bevor er mit leiser Stimme weitersprach. »Eine Antwort habe ich bis
heute nicht gefunden. Vielleicht liegt sie irgendwo.«
Christoph hatte seine Hände auf das Lenkrad gelegt.
»Suchen Sie danach?«
»Vielleicht. Seit einigen Jahren schreibe ich. Ich
habe zuerst geglaubt, mein Inneres durch Lyrik freilegen zu können. Das war ein
vergeblicher Versuch. Ich bin Perfektionist. Deshalb bin ich auf Prosa
ausgewichen.«
»Darf man Ihre Gedanken lesen?«
Von Hasenteuffel spitzte die Lippen und fuhr sich mit
Daumen und Zeigefinger über die Mundwinkel.
»Ich habe sie in einem Internetforum, in dem sich
Gleichgesinnte und Interessierte finden, der öffentlichen Kritik preisgegeben.«
»Und? Wie war die Reaktion?«
Der Baron starrte immer noch durch die Scheibe.
»Lesen Sie es selbst nach«, antwortete er kurz
angebunden, öffnete die Tür und stieg aus. Er beugte sich anschließend noch
einmal ins Wageninnere.
»Danke für den Spaziergang«, sagte er und wandte sich
dann dem Eingang der Seniorenresidenz zu.
*
Noch bevor Christoph die Tür seines Büros geöffnet
hatte, roch er, dass Große Jäger anwesend war. Der Zigarettenqualm drang durch
die Türritzen auf den Gang hinaus. Mit einem Hauch von Zorn betrat Christoph
den Raum, besann sich aber im letzten Moment, dass es vielleicht besser wäre, seinen
Kollegen heute nicht zu sehr zu bedrängen, und zog es deshalb vor, das Fenster
wortlos zu öffnen und die frische Seeluft hereinzulassen, um der unerfreulichen
Mischung aus Zigarettenrauch, Hund und Große Jägers eigener Ausdünstung zu
begegnen.
Der Oberkommissar sah ihm wortlos, aber interessiert
zu. Erst nachdem sich Christoph an seinem Schreibtisch niedergelassen hatte,
berichtete Große Jäger von seiner Begegnung mit Hoang Thanh Tho und dem Besuch
in der Unterkunft der Asylbewerber.
»Es ist erstaunlich, dass ausgerechnet Asylbewerber,
Arbeitslose vom Bahnhof, notorische
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