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Todesinstinkt

Todesinstinkt

Titel: Todesinstinkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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eher leichten – Gegenständen auszuweichen,
die Mrs. Littlemore – nicht besonders präzise – in seine Richtung warf.
    Betty teilte nicht die Begeisterung ihres Gatten über den Umzug nach Washington, wo Littlemore eine Stelle im Treasury Department — im Finanzministerium — anzutreten gedachte. Sie wies ihn darauf hin, dass ihre Kinder zur Schule gingen. Außerdem hatten sie Verwandte in New York. Ihre Mutter und ihr Bruder lebten hier. All ihre Freunde ebenso. Da konnten sie doch nicht einfach zusammenpacken und verschwinden.
    Nach einer Weile unternahm Littlemore gar keinen Versuch mehr, auf diese Vorhaltungen zu antworten. Er scharrte nur mit der Schuhspitze über den Gehsteig, bis seine Frau verstummte. »Tut mir leid«, meinte er schließlich, »ich hätte vorher mit dir reden müssen.«
    »Du willst es wirklich, oder?«, fragte sie.
    »Auf so eine Chance warte ich schon mein ganzes Leben.«
    Sie reichte ihm ein zusammengefaltetes Blatt, das sie aus der Tasche zog. »Das ist heute gekommen. Da steht drauf, wie viel Lilys Operation kosten würde.«
    Lily, die eineinhalbjährige Tochter der Littlemores, war mit einer leichten, aber vollständigen Atresie der äußeren Gehörgänge geboren worden. Anders ausgedrückt, an der Stelle, wo in ihren kleinen, hübschen und scheinbar gesunden Ohren eine Öffnung hätte sein müssen, befanden sich eine Membran und darunter wahrscheinlich ein Knochen. Sie reagierte zwar auf Geräusche, aber um später richtig hören und sprechen zu können, musste sie operiert werden – und zwar bald. Für diesen Eingriff war ein Spezialist erforderlich, und für den Spezialisten Geld.

    »Zweitausend Dollar?« Littlemore mochte es nicht glauben. »Für eine kleine Öffnung?«
    »Zweitausend für jedes Ohr «, erwiderte Betty.
    Littlemore las den Brief noch einmal. Seine Frau hatte Recht, wie üblich. »Damit ist die Sache entschieden. Ich muss die Stelle bei der Treasury annehmen. Das Gehalt dort ist fast doppelt so hoch wie jetzt.«
    »Mach dir doch nichts vor, Jimmy. Viertausend Dollar bringen wir nie zusammen, egal, wo du arbeitest. Wir müssen sie in eine Sonderschule geben. Und schon jetzt anfangen, Zeichensprache zu verwenden. An der Tenth Street gibt es so eine Schule. Die einzige im ganzen Land.«
    Littlemore runzelte die Stirn. Er ließ den Blick durch die Fourteenth Street gleiten, über die vornehmen, großen Gebäude an den Ecken der Avenuen und die schlichteren, kleineren Häuser ohne Fahrstuhl. In einem davon wohnte er mit seiner Familie. »Also gut, ich lehne die Stelle ab.«
    In einem Streit die Oberhand zu behalten, hatte unweigerlich eine beschwichtigende Wirkung auf Betty Littlemore, die sofort Partei für ihren Mann ergriff. »Na ja, vielleicht müssten wir gar nicht umziehen.«
    »Stimmt.« Hoffnung stahl sich in Littlemores Stimme. »Ein großer Teil der Ermittlungen wird sowieso in New York stattfinden.«
    Letztlich wurde beschlossen, dass Littlemore Minister Houstons Angebot nur annehmen sollte, wenn er abwechselnd in New York und Washington arbeiten konnte. Und Houston erwies sich als äußerst entgegenkommend. In Washington sollte Littlemore ein eigenes Büro im Finanzministerium erhalten. In Manhattan konnte er im Schatzamt
an der Wall Street arbeiten. Die Bundesregierung würde sogar die Kosten für seine Bahnreisen übernehmen.
     
    W er an einem Sonntagabend im Oktober 1920 an der Union Station im District of Columbia — bei ihrer Eröffnung der größte Bahnhof der Welt mit Marmorböden und reichlich Blattgold an der tonnengewölbten, dreißig Meter hohen Decke — aus dem Zug stieg, betrat einen riesigen, unbebauten Platz mit einem achtlos hingeworfenen Brunnen in der Mitte und einigen wenigen Automobilen, die ungehindert von Fahrbahnen oder sonstigen Richtungsvorschriften ihre staubigen Kreise zogen. Auf einem angrenzenden, von Unkraut übersäten Feld spielten Männer Baseball. Auf der anderen Seite des Platzes erhoben sich mehrere gedrungene Wohnheime, die während des Krieges hastig hochgezogen worden waren. Das Ganze wirkte, als hätte man die Zivilisation gegen einen Außenposten in der Wildnis vertauscht. Drei Blocks weiter erhob sich das Kapitol, dessen Kuppel in der sinkenden Sonne rot aufleuchtete. Auch dieser monumentale Bau war von einem großen, unerschlossenen Areal umgeben.
    Voller Ehrfurcht betrachtete Jimmy Littlemore das Kapitol. In einer Hand hielt er einen Koffer, in der anderen eine Aktentasche. Als New Yorker erwartete er

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