Todesinstinkt
beherrscht. »Wenn Sie es nicht tun, werden Sie es Ihr Leben lang bedauern – und es sich übelnehmen.«
Das Schiff meldete sich mit einem ohrenbetäubenden Tuten. Möwen flogen auf. Alle Passagiere wurden zum Einsteigen aufgefordert.
Colette vergrub die Wange an seiner Brust.
»Na los«, drängte Younger und schob sie ein Stück von sich weg. »Wird schon nicht so schlimm. Sie können sich auch noch in Wien an meiner Schulter ausheulen, sobald wir dort sind.«
Sie sah ihn an, und er erwiderte ihren Blick. »Das meinen Sie doch nicht ernst.«
»Warum denn nicht? Sie lieben doch mich und nicht diesen Hans.«
Sie stritt es nicht ab.
Younger war noch nicht zu Ende. »Wenn ich Sie allein fahren lasse, dann heiraten Sie diesen Sträfling vielleicht noch. Und glauben Sie bloß nicht, dass ich um Ihretwillen mitkomme. Ich mache mir einfach Sorgen um den Kerl. Eine Frau tut einem Mann keinen Gefallen, wenn sie ihn heiratet, obwohl sie einen anderen liebt. Das würde ihn umbringen, langsam, aber sicher. Außerdem ... « Er zog eine weitere
Karte für die Überfahrt auf der George Washington aus der Tasche. »Außerdem ist mein Gepäck schon an Bord.«
Colettes ganzer Körper schien vor Erleichterung aufzuatmen, und auf ihrem Gesicht erstrahlte ein unwiderstehliches Lächeln. Als das Schiff hinaus aufs offene Meer steuerte, öffneten die drei eine Flasche Champagner. Sogar Luc durfte ein wenig davon kosten.
TEIL III
12
E igentlich hätten die Vereinigten Staaten im Herbst 1920 vom Wahlkampffieber beherrscht sein müssen, von rastlos reisenden Politikern und Marschkapellen. Die Amerikaner sollten über einen neuen Präsidenten entscheiden, und die bei diesem Ereignis stets zu beobachtende Aufregung hätte sich sogar verdoppeln müssen, weil zum ersten Mal die Frauen ein Stimmrecht hatten. Einer der vielversprechendsten Kandidaten – der republikanische Senator Warren G. Harding – hätte sogar ausdrücklich im Hinblick auf das schwache Geschlecht nominiert worden sein können.
Hardings Anziehungskraft auf Frauen war keine Frage von Spekulationen, sondern eine erwiesene Tatsache. Er hatte eine treue Gattin von einundsechzig, eine langjährige Geliebte von siebenundvierzig, eine weitere Geliebte von dreißig und eine neue Flamme von vierundzwanzig, die bis über beide Ohren in ihn verschossen war. »Bloß gut, dass ich keine Frau bin«, scherzte Harding gerne. »Ich kann einfach nicht Nein sagen.« Harding konnte zwar keine besonderen politischen Leistungen vorweisen, aber mit seinem Silberhaar und dem feurigen Lächeln, den dunklen Augenbrauen, dem gebieterischen Blick und dem starken Kinn war er zweifellos eine präsidentenhafte Erscheinung.
Dennoch hatte die Wahlkampflokomotive Fahrt verloren. Überall, wo sich Menschen versammelten, war das Unbehagen mit Händen zu greifen. Die Welle von Verhaftungen
und Deportationen war ungebrochen, aber der terroristische Anschlag blieb ungeklärt. Mächtige Menschen – Reiche, Gouverneure, Senatoren – verlangten die erneute Mobilmachung. Zeitungen forderten Krieg. Die Wolke aus Rauch und flammendem Staub, die am 16. September die Sonne an der Wall Street verhüllt hatte, hatte sich noch nicht gelegt. Im Gegenteil, ihr Schleier hatte sich über die gesamte Nation gebreitet.
Am 27. September, dem Tag der Abreise von Colette und Younger nach Europa, berichteten Zeitungen im ganzen Land, dass der sowjetische Diktator W.I. Lenin die Vereinigten Staaten mit Geheimagenten infiltriert hatte, um Arbeiterunruhen, Terror und Rebellion zu schüren. In Boston streikten die Taxifahrer, und es gab einen Sturm auf die Banken. In Alabama verhinderten Soldaten mit Maschinenpistolen einen Streik der Bergarbeiter. Der drittpopulärste Präsidentschaftskandidat Eugene Debs war ein unverfrorener Sozialist, aber wenigstens saß er im Gefängnis, da er es 1918 gewagt hatte, die Notwendigkeit des Krieges zu leugnen. Währenddessen trocknete die Prohibition die Kehle der Arbeiter aus, und der Nachhall des 16. September trieb die Menschen zur Eile an, wenn sie in den Großstädten hinaus auf die Straße gingen. Das ganze Land hielt den Atem an – und wusste nicht einmal, wofür.
A uf der Fourteenth Street, zwischen Fifth und Sixth Avenue, kosteten die Littlemores einen spätabendlichen Streit aus. In der Küche hatte er begonnen und schließlich auf der Straße geendet. Die Verlegung ins Freie war günstig für Mr. Littlemore, denn drinnen war es ihm immer schwerer gefallen, den – meist
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