Todesinstinkt
nach einer Arbeit umzusehen, Fräulein, gebe ich Ihnen gern die Adresse des Wiener Radiuminstituts. Es hat einen ausgezeichneten Ruf und stellt ohne Bedenken auch Frauen ein. Außerdem kann ich Ihnen den Namen und die Adresse eines alten Bekannten geben. Er ist Neurologe. « Ein schmales, nicht unbedingt fröhliches Lächeln huschte über Freuds Gesicht, als er rasch ein paar Zeilen
hinwarf. »Sein Behandlungsansatz für Kriegsneurosen ist viel zügiger als meiner. Für die Qualität seiner Arbeit kann ich mich nicht verbürgen, aber viele Menschen glauben daran, und da Sie vor allem an einer möglichst schnellen Heilung Ihres Bruders interessiert scheinen, Mademoiselle Rousseau, wäre es von meiner Seite eine Nachlässigkeit, seinen Namen nicht zu erwähnen. Was Sie betrifft, Younger, so ist es höchste Zeit, dass wir diese unbeendete Angelegenheit zwischen uns klären. Morgen um elf Uhr vormittags habe ich eine Stunde frei. Ich erwarte Sie.«
I ch habe Sie gewarnt, dass er sehr schroff sein kann«, sagte Younger, als ihr Wagen auf dem Kopfsteinpflaster der Berggasse zum Donaukanal klapperte.
»Er ist so traurig«, antwortete Colette.
»Freud? Eher müde, denke ich. Und zornig. Warum, weiß ich nicht.«
»Pragmatisch, würde ich meinen«, sinnierte Oktavian. »Kompetent.«
»Ich habe noch nie so traurige Augen gesehen.«
»Ich fand sie überhaupt nicht traurig«, erwiderte Younger.
»Ah, da kann ich leider nicht mitreden«, ließ sich der Kutscher vernehmen. »Ich konnte ihn zwar vom Fenster aus gut hören, aber seine Augen haben sich meinem Blick entzogen.«
»Das liegt daran, dass Sie nie wahrnehmen, was andere fühlen.« Colettes Worte richteten sich an Younger. »Ein Glück, dass Sie die Psychologie aufgegeben haben. Sie sind wie ein Blinder.«
14
Z u den stattlicheren Bauten an der Wiener Ringstraße gehörte ein vierstöckiges, rosa und weiß gestrichenes Wohnhaus, in dessen Erdgeschoss das elegante Café Landtmann untergebracht war. Am nächsten Vormittag um elf trafen sich Younger und Freud unter einer endlosen Reihe von Kristallleuchtern im Hauptsalon. Der Oberkellner begrüßte Freud wie einen guten Freund und führte ihn zu einem Tisch an einem Fenster mit kunstvollen Gardinen, durch das sie das prachtvolle Staatstheater auf der anderen Straßenseite sehen konnten.
Freud setzte sich. »Nun, wissen Sie, worüber ich mit Ihnen sprechen möchte?«
»Über den Ödipuskomplex?«
»Über Mademoiselle Rousseau.«
»Warum?«
»Erzählen Sie mir zuerst, welchen Eindruck Sie von meinem alten Bekannten Jauregg hatten.«
Younger, Colette und Luc hatten den Neurologen Dr. Julius Wagner-Jauregg am Morgen in seinem Büro an der Universität aufgesucht. »Er behandelt Kriegsneurosen mit Elektroschock«, sagte Younger.
»Ja. Seine Arbeitsgruppe berichtet von beachtlichen Erfolgen. War er überrascht, dass ich Sie zu ihm geschickt hatte?«
»Sehr sogar. Er meint, dass Sie bei einer Verhandlung letzte Woche gegen ihn ausgesagt haben.«
»Im Gegenteil. Ich habe für ihn ausgesagt. Ihm wurde vorgeworfen, dass er unsere Soldaten durch Folter zur Rückkehr an die Front gezwungen hat. Die Regierung hat mich damit beauftragt, die Angelegenheit zu untersuchen. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass sein Einsatz der Elektrotherapie ethisch einwandfrei war. Natürlich habe ich auch erläutert, dass nur die Psychoanalyse die Wurzeln von Granatenschock aufdecken und diesen heilen kann, dass dies aber 1914 noch nicht bekannt war. Mein Bekannter hat — wie auch seine vielen Anhänger — im weiteren Verlauf alles darangesetzt, den Ruf jedes Psychoanalytikers in Wien zu beschmutzen.« Ein Kellner brachte ihnen zwei Kaffee in kleinen Tässchen mit Goldrand und einen Korb Gebäck. »Dumm von mir. Irgendwie hatte ich vergessen, wie viel Feindseligkeit man uns immer noch entgegenbringt. Aber das ist unwichtig. Hat er Sie zu einer Elektroschockbehandlung für den Jungen überreden können?«
»Er hat sich für eine einzige Behandlung mit niedriger Voltzahl ausgesprochen. Er ist der Auffassung, dass es sich bei Granatenschock um eine Art Kurzschluss im Gehirn handelt und dass ein kleiner krampfauslösender Stromstoß die Schaltkreise reparieren kann.«
»Ich weiß. Und da Sie nicht an die Psychologie glauben, sollte Ihnen das doch einleuchten.«
Younger dachte an den verwirrten, gequälten Ausdruck, den er im Gesicht von Soldaten mit Kriegsneurosen wahrgenommen hatte. Als Naturwissenschaftler war er überzeugt, dass
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