Todesinstinkt
ihre Beschwerden durchaus auf Störungen der Nervenschaltungen zurückgehen konnten. Aber irgendetwas in ihm hatte sich bei Luc gegen die Diagnose gesträubt – oder
zumindest gegen die Behandlungsmethode. »Ich glaube nicht, dass dem Gehirn des Jungen etwas fehlt.«
»Ah, Sie meinen, es liegt an seinem Kehlkopf?«
»Wohl kaum.«
»Nun, dann haben Sie zumindest in einer Sache Recht. Was hat Mademoiselle Rousseau dazu gemeint? Nein, lassen Sie mich raten. Sie war zerstreut und hatte keine klare Haltung. Sie wollte, dass Sie entscheiden.«
»Woher wissen Sie das?«
»Würden Sie sie als selbstzerstörerisch bezeichnen?«, kam Freuds Gegenfrage.
»Keineswegs.«
»Wirklich? Mein Eindruck ist, dass Sie eine Vorliebe für solche Frauen haben.«
»Manchmal mache ich Ausnahmen.«
»Sie fühlt sich nicht zu gewalttätigen Männern hingezogen?«
»Wenn Sie damit mich meinen, dann ist meine Anziehungskraft auf sie bedauerlich gering.«
»Ich meine nicht Sie«, bemerkte Freud.
»Sondern ihren Verlobten Gruber?«
»Der Mann ist ein vorbestrafter Krimineller.«
Younger schaute zum Fenster hinaus. »Sie erinnert sich nur an einen lieben, frommen Soldaten, den sie im Krankenhaus gepflegt hat.«
»Eine mütterliche Zuneigung? Nicht sehr wahrscheinlich. « Freud rührte in seinem Kaffee. Seine ohnehin schon zerfurchte Stirn verfinsterte sich noch mehr. »War ich gestern Abend zu streng zu ihr?«
»Das hält sie schon aus. Warum waren Sie so streng?«
Freud nahm die Brille ab und wischte mit einem Taschentuch
ausgiebig erst das eine, dann das andere Glas sauber. »Sie erinnert mich an Sophie, meine Zweitjüngste. Bildschön, eigensinnig. Sophie hat sich mit neunzehn verlobt. Mit einem dreißigjährigen Fotografen. Es war, als könnte sie nicht schnell genug aus dem Haus kommen. Ich glaube, ich habe an Mademoiselle Rousseau einen Ärger abreagiert, den ich gegen Sophie hege, weil sie uns so früh verlassen hat.«
»Sophie, ist das die, die in Deutschland lebt?«
»Sie ist die, die gestorben ist.« Freuds Löffel klopfte mehrmals unregelmäßig an den Rand seiner Tasse.
»Das wusste ich nicht.«
»Das war im Januar. Die Grippe. Sie hat in Berlin gewohnt mit ihren zwei kleinen Jungen und ihrem Mann, den ich immer viel zu schlecht behandelt habe. Als wir die Nachricht von ihrer Krankheit bekamen, sind keine Züge gefahren — nicht einmal für Notfälle. Und kurz darauf hieß es schon, sie ist tot.« Er atmete tief durch. »Danach hat für mich praktisch alles seinen Sinn verloren. Für einen Ungläubigen wie mich gibt es in so einer Situation keine tröstlichen Erklärungen und Begründungen. Nur stille Resignation. Nackte Notwendigkeit. Meine Kinder — meine anderen Kinder – und ihre Kinder ...« Freud hielt inne, um sich zu fassen. »Monatelang war mir ihr Anblick einfach unerträglich.«
Draußen auf der Ringstraße herrschte lebhafte Betriebsamkeit. Automobile und Straßenbahnen rollten dahin. Ein malerischer Fiaker klapperte vorbei. Eine Gouvernante mit Kinderwagen spazierte über den Gehsteig.
»Nun, das Glück des Menschen war nie Sinn und Zweck dieser Schöpfung«, konstatierte Freud. »Sie werden mir
Aberglauben vorwerfen, aber ich habe eine schlechte Vorahnung, was Mademoiselle Rousseau betrifft. Warum ist sie nach Wien gekommen?«
»Sie haben es gestern Abend schon erraten. Dieser Gruber wurde gerade aus dem Gefängnis entlassen.«
»Ach, hören Sie auf – Sie werden doch nicht Ihr ganzes psychologisches Wissen vergessen haben. Was ist der Grund für Mademoiselle Rousseaus Reise?«
»Vermutlich will sie herausfinden, ob er sie noch liebt. Oder vielleicht ob sie ihn noch liebt. Sie hat ein Versprechen gegeben und hat das Gefühl, dass sie es halten muss.«
»Unsinn. Dieser Motivation traue ich nicht. Und Sie sollten es auch nicht tun. Wissen Sie, weswegen ihr Soldat in Haft war?«
»Nein.«
»Ich schon. Sie hat es mir unter Tränen gebeichtet, einen Tag nachdem Sie letztes Jahr aus Wien abgereist waren. Er hat einen alten Mann zusammengeschlagen. Das sagt zumindest die Polizei. Ich habe sie ermahnt, dass ein Rüpel, der mit der Antisemitischen Liga marschiert, kein geeigneter Ehemann für sie ist. Ich habe ihr davon abgeraten, sich mit ihm zu treffen. Eigentlich dachte ich, dass sie sich das zu Herzen genommen hat.«
»Offenbar hat sie es sich anders überlegt«, bemerkte Younger.
»Es gibt ein Phänomen, das bei vielen jungen Frauen zu beobachten ist. Sie gehen eine Verbindung zu einem
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