Todesinstinkt
an der Richtigkeit ihrer Vorahnungen.«
»Tut mir leid, Dr. Prince. Das überzeugt mich nicht.«
»Wie erklären Sie sich dann, dass er schon vorher von dem Bombenanschlag wusste?«
Littlemore antwortete mit einer Schärfe, die ihn selbst überraschte. »Ich kann es mir nicht erklären. Aber wissen Sie was? Auch wenn er der Geist des Weihnachtsmanns persönlich ist, nützt es mir nichts.«
D as Willard Hotel an der Pennsylvania Avenue gleich in der Nähe des Weißen Hauses war Präsident Ulysses S. Grants bevorzugtes Lokal, wenn er nach einem langen Arbeitstag einen Brandy brauchte. Geschäftsleute oder ihre Abgesandten lauerten in der Hotellobby und stürzten sich auf Grant, um ihr Anliegen vorzutragen, ihn mit Schnaps zu traktieren und ganz allgemein zu erklären, wie viel sie für seine Regierung tun könnten, wenn nur eine wesentliche Genehmigung erteilt oder ein lukrativer Vertrag unterzeichnet würde. Grant nannte sie »Lobbyisten«.
Diese hohe Lobby durchquerte Littlemore, als sich ihm eine vertraute, hochgewachsene Gestalt näherte, die in die maßgeschneiderte weibliche Version eines Männeranzugs gekleidet war.
»Genießen Sie Washington, Agent Littlemore?«, fragte sie unter einem glitzernden Kronleuchter.
»Guten Abend, Mrs. Cross.«
»Neue Krawatte?«
Littlemore senkte den Blick. Er bevorzugte eher Fliegen, aber in seiner ersten Arbeitswoche hier hatte er keinen einzigen Treasury-Agenten gesehen, der eine trug. Das hatte er Betty erzählt, die ihm wenig später eine Krawatte schenkte. »Wollen Sie andeuten, dass sie nicht richtig gebunden ist?«
»Sie ist gut gebunden. Ein bisschen zu eng vielleicht.« Sie lockerte sie, und er bekam auf einmal wieder Luft. »So ist es besser. Senator Fall möchte Sie sehen. Ich soll Sie zu ihm bringen.«
Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte sich Mrs. Cross um und schritt zum Hoteleingang. Littlemore folgte ihrem beschwingten Gang erst mit den Augen, dann mit den Beinen. Draußen setzte sie sich ans Steuer eines wartenden Automobils.
»Sie sind die Fahrerin?« Littlemore ließ sich neben ihr nieder.
»Ich bin die Fahrerin.« Sie startete den Wagen. »Macht Sie das nervös?«
»Mich macht so leicht nichts nervös.«
Mrs. Cross chauffierte Littlemore durch die Mall. Kurz vor dem Kapitol bog sie ab in ein armes Viertel ähnlich dem, in das er sich an seinem ersten Tag in Washington verirrt hatte. Sie bremste hinter einem anderen Wagen auf einer kleinen, unbeleuchteten Straße, die von klaustrophobischen Ziegelmauern gesäumt wurde. In mehreren Fenstern brannte Licht, aber Vorhänge verhinderten genauere Einblicke. »Maine Avenue«, erläuterte Mrs. Cross. »Hieß früher Armory Place. Auch als Louse Alley bekannt. Viel Glück.«
Aus dem vorderen Automobil stieg der Chauffeur und öffnete die Tür für Senator Fall, der mit einem weißen Cowboyhut über dem weißen Schnurrbart herauskletterte. Littlemore trat zu ihm. Mrs. Cross blieb im Wagen, dessen Motor leise schnurrte.
»Mögen Sie sie farbig, Littlemore?«, erkundigte sich Fall. »In dieser Straße gibt es die besten farbigen Mädels der
Stadt. Deswegen gefällt’s mir hier so gut. Nur drei Blocks vom Kapitol entfernt.«
»Was ist der Grund unseres Treffens, Mr. Senator?«
»Anscheinend hat sich Ihr Chef, Minister Milchbart, bei Präsident Wilson beschwert, dass ich mich in seine Untersuchung einmische. Da habe ich mir einen entlegeneren Ort für unseren Plausch einfallen lassen.« Fall ging die Straße hinunter, Littlemore an seiner Seite. Das Automobil des Senators folgte ihnen langsam. »Was wissen Sie von den Burschen, auf die es Flynn abgesehen hat?«
»Welche Burschen?«
»Zwei Italiener oben in Boston. Wie heißen sie gleich wieder, verdammt? Mir fällt nichts anderes ein als ein Sack Spaghetti.«
»Sacco und Vanzetti?«
»Richtig, die meine ich.«
»Sie wurden verhaftet, weil sie einen Lohnbuchhalter ermordet haben«, erklärte Littlemore. »Was hat Flynn mit denen zu tun?«
»Er glaubt, sie sind die politischen Gefangenen aus den anarchistischen Wurfsendungen.«
»Das ist doch Blödsinn. Wenn die Roten von politischen Gefangenen reden, meinen sie Debs und die anderen Kriegsgegner, die von Palmer und Big Bill eingesperrt wurden. Das weiß jeder. Das müssten schon strohdumme Anarchisten sein, wenn sie von politischen Gefangenen reden und zwei Kerle befreien wollen, die wegen Mordes an einem Lohnbuchhalter in Boston verhaftet wurden. Das würde doch kein Mensch
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