Todesinstinkt
ähnlich.«
»Nein, ich meine ... Tun Sie mir einen Gefallen und holen Sie Fischers Akte. Ich bleibe dran.«
Wenige Minuten später war Stankiewicz wieder in der Leitung. »Hab sie.«
»In Ordnung, und jetzt suchen Sie mir den Namen von Fischers Schwager raus. Das ist der Mann, der nach Kanada gefahren ist und dafür gesorgt hat, dass Fischer in eine Anstalt kommt. Der Name müsste in den kanadischen Unterlagen stehen.«
»Ja, da ist er. Pope. Robert Pope. Deswegen musste ich an Bishop denken.«
»Na, das ist ein Ding«, sinnierte Littlemore. »Die Popen.«
D ie Personalabteilung der Treasury lag im ersten Stock. Littlemore kannte sich hier inzwischen gut aus, weil er schon seit drei Wochen Personalakten studierte. Er wandte sich an eine Sekretärin im Büro. »Sagen Sie, Molly, ist die Treasury für den Geheimdienst zuständig?«
»Sicher«, antwortete sie. »Warum?«
»Vor zwei Wochen hat mir das jemand erzählt, und ich habe ihm nicht geglaubt. Anscheinend sind seine Angaben doch nicht so falsch.«
Bald darauf saß Littlemore oben im Aktenzimmer und blätterte durch Jahrzehnte von Aufzeichnungen über Angestellte des US-Geheimdienstes. Er war sich sicher, dass er den gesuchten Namen finden würde, auch wenn es noch so unwahrscheinlich war. Und er fand ihn.
Die Mappe war praktisch leer und enthielt nur die nackten Daten zum Jahr der Anwerbung und zur Dienststelle. Das Jahr war 1916, der Ort New York. Danach folgten einige wenige Bleistiftnotizen, die Ende 1917 endeten.
L ittlemore warf die Mappe auf Minister Houstons Schreibtisch. »Es hätte mir vielleicht geholfen, wenn Sie erwähnt hätten, dass der einzige Mensch, der die Leute vor der Bombe warnen wollte, ein Angestellter von uns war.«
Houston wirkte überrascht.
Littlemore hakte nach. »Sie wussten nicht, dass Ed Fischer ein Agent war?«
»Ich hatte keine Ahnung. Ich habe ja bereits erwähnt, dass ich erst seit diesem Jahr Minister bin.«
»Wie wird man Agent?«
»Für die Anwerbung ist der Direktor des Geheimdienstes zuständig.«
»Wer ist der Direktor?«
»Bill Moran.«
»Kann ich mit ihm reden?«
Houston rief seinen Sekretär herein und wies ihn an, Mr. Moran zu holen. In der folgenden Stille stand Houston am Fenster, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und blickte hinaus auf das Gelände des Weißen Hauses. »Diese Arbeit wird mir nicht fehlen, Littlemore. Wie soll ich mit Einnahmen von vier Milliarden einen Haushalt von acht Milliarden bestreiten? Wir leben über unsere Verhältnisse. Kein Borger sei und auch Verleiher nicht — ein Zitat aus Hamlet , das mir mein Vater ans Herz gelegt hat. Und jetzt tue ich nichts anderes als borgen und verleihen.«
»Werden Sie es nicht vermissen, dass Sie Kabinettsmitglied sind? Die Welt liegt Ihnen zu Füßen, Mr. Houston.«
»Ach, weil ich gestern Abend ein Diner für den britischen Botschafter gegeben habe? Meine Frau mag so was. Ich kann es nicht ausstehen. Jedes Wort, das man in den Mund nimmt, ist eine Lüge. Na ja, in fünf Monaten, wenn Harding
sein Amt antritt, ist alles vorbei. Vielleicht verabschiede ich mich auch schon vorher und reise ins Ausland. Ja, das kann ich mir vorstellen.«
Wenig später kam Houstons Sekretär mit William Moran zurück, dem Leiter des US-Geheimdienstes. Mr. Moran bestritt entschieden, Edwin Fischer angeworben zu haben. »Da, sehen Sie.« Moran wies auf die Mappe. »Fischer wurde 1916 eingestellt. Ich bin erst seit 1917 im Amt.«
»Wer war vor Ihnen Direktor?«, fragte Houston.
»Flynn.«
»Flynn?«, warf Littlemore ein. »Doch nicht etwa Big Bill?«
»Klar«, erwiderte Moran. »Bevor er Direktor des Bureau wurde, war Bill Flynn Leiter des Geheimdienstes.«
N achdem er in vollem Tempo durch die hallende Union Station gerannt war, um seinen Zug zu erwischen, ließ sich Littlemore am 2. November 1920 schwer schnaufend auf seinem Platz nieder und erinnerte sich plötzlich daran, dass Wahltag war. Außerdem wurde ihm klar, dass er nicht abstimmen konnte. Sein Zug sollte erst weit nach Schließung der Wahllokale in Manhattan eintreffen. Er war überrascht, wie tief seine Enttäuschung war.
Während der Zug eine Kleinstadt nach der anderen passierte, empfand Littlemore ein unerklärliches Mitgefühl: für die kleinen Häuser, aus deren Kaminen Rauch aufstieg, für das Brennholz, das jemand mühsam aufgestapelt hatte. Mitgefühl für all die stillen, schweren, ungezählten Menschenleben, über die niemals jemand eine Geschichte schreiben
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