Todesinstinkt
würde. Dann stellte sich Littlemore vor, wie die Bewohner all dieser Orte Schlangen bildeten, um die Führung ihres Landes zu wählen. Der Gedanke erfüllte
ihn mit Stolz — und zugleich mit einem vagen Gefühl der Entfremdung, weil er zum ersten Mal nicht daran teilnahm. Allerdings war sich Littlemore nicht einmal sicher, ob er überhaupt stimmberechtigt war. Dem Buchstaben nach wohnte er jetzt im District of Columbia, und Washingtoner waren für die Wahl des Präsidenten nicht zugelassen.
Nicht dass seine Stimme gezählt hätte. Das war das Merkwürdige an der Demokratie: Nichts zählte mehr als das Wählen, aber das Wählen zählte nicht. Abgesehen davon stand der Sieg des Republikaners Harding bereits fest. Der Demokrat James Cox hatte in etwa so viele Chancen wie Eugene Debs, der sozialistische Kandidat, der noch immer im Gefängnis saß. Das bedeutete auch, dass der Demokrat Houston sein Ministeramt nicht mehr lange bekleiden würde, während Senator Fall bald in die Rolle des Außenministers schlüpfen würde.
A n diesem Dienstag im November feierten in ganz Amerika die Frauen, die zum ersten Mal das nationale Wahlrecht ausüben durften. Vor vielen Wahllokalen traten Männer galant beiseite, um den Frauen den Vortritt zu lassen, aber diese bestanden darauf, ihren Platz in der Schlange einzunehmen und genauso lange zu warten wie die Männer. Zu Hause in ihren Küchen und Stuben versammelten sie sich in kleinen Gruppen und stießen mit prickelndem Most an, einem erlaubten Ersatz für den verbotenen Sekt.
Die Schwarzen wurden nicht ganz so höflich an den Wahlurnen empfangen, und auch die Feiern danach hatten einen weniger vornehmen Charakter. Als etwa zwei Farbige
die Kühnheit besaßen, in Ocoee, Florida, ihr Wahlrecht auszuüben, hielt es der Ku Klux Klan für angezeigt, ein Exempel zu statuieren. Zwei Kirchen wurden geplündert, ein Viertel niedergebrannt und dreißig bis sechzig Schwarze getötet – einer von ihnen an einem Telefonmasten aufgeknüpft.
Doch die Nation wählte sich einen neuen Präsidenten, und im ganzen Land herrschten Festtagslaune und Aufbruchsstimmung.
Z urück in New York, stattete Littlemore der provisorischen Außenstelle des Federal Bureau of Investigation im Astor Hotel erneut einen Besuch ab.
»Ja, wen haben wir denn da«, bemerkte Direktor Bill Flynn. »Wenn das nicht unser Littleboy ist.«
»Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen, Flynn. Es geht um Ed Fischer.«
Flynn wandte sich an die beiden Männer in dunklen Anzügen, die wie immer seinen Schreibtisch flankierten. »Ein New Yorker Polizist will mir Fragen stellen? Dieser Schwachkopf braucht wohl eins aufs Dach.«
»Hey, Schwachkopf«, erkundigte sich einer von Flynns Assistenten, »brauchst du eins aufs Dach?«
Littlemore zeigte seine Treasury-Marke.
»Das will ich sehen.« Flynn begutachtete das Abzeichen. »Mit der Welt geht es bergab, mehr kann ich dazu nicht sagen.« Er warf Littlemore die Marke vor die Füße. »Nur schade, dass ich nicht mit Treasury-Agenten rede.«
»Und ob Sie mit mir reden werden, Flynn.« Littlemore reichte ihm einen von Finanzminister David Houston unterzeichneten Brief, in dem Flynn aufgefordert wurde, Special
Agent Littlemore alle Fragen zu Flynns Amtszeit als Direktor des Geheimdienstes zu beantworten.
Flynn überflog den Brief und ließ ihn auf den Boden fallen. »Ich verrate dir mal was, Aufsteiger. Ich nehme auch keine Anweisungen von Minister Houston entgegen. Meine Befehle kommen ausschließlich von Justizminister Palmer. Und jetzt raus mit dir.«
Littlemore zog einen weiteren Brief aus der Tasche. Er war von Justizminister A. Mitchell Palmer unterzeichnet.
»Scheißkerl.« Nach kurzem Zögern wandte sich Flynn wieder an seine Assistenten. »Also gut, Jungs, verschwindet mal kurz.«
»Aber zuerst hebt einer von ihnen meine Marke auf«, sagte Littlemore.
»Was steht ihr hier rum, ihr Armleuchter? Hebt dem Mann seine Marke auf.«
D ann habe ich ihn eben angeworben«, räumte Flynn einige Minuten später ein. »Na und? Der Kerl war doch ein Spinner.«
»Wie haben Sie ihn kennengelernt?«
Big Bill Flynn, dessen tonnenförmiger Oberkörper eigentlich keine zusätzliche Stärkung benötigte, wickelte das rot-weiß gestreifte Papier von einem Bonbon aus der Süßigkeitenschale auf seinem Schreibtisch. »1916 fängt Fischer damit an, dass er Wilson Briefe schreibt. Der übliche Antikriegsmüll. Aber irgendwie sind die Briefe komisch, fast als würde er den
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