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Todesinstinkt

Todesinstinkt

Titel: Todesinstinkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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schlief.
    »Sind Sie das?«, flüsterte Colette in der Dunkelheit.
    »Ja.« Younger löste die Krawatte und trat zur Schüssel, um sich das Gesicht zu waschen. Soeben hatten sie die Grenze nach Österreich überquert. Er hatte im Korridor gewartet, um zu sehen, ob Polizisten einstiegen. Doch kein Uniformierter war aufgetaucht.
    »Sie sind ein echter Krieger«, bemerkte sie unerwartet.
    Er hob Luc auf und ließ ihn ins obere Bett gleiten. Der Junge bewegte sich, aber seine Augen blieben geschlossen. Erschrocken setzte sich Colette auf und zog die Decke schützend hoch bis zum Hals. Offenbar hatte sie Angst, dass er etwas von ihr wollte.
    Er wollte ihr versichern, dass er den Jungen nur nach oben gelegt hatte, weil er ein eigenes Abteil für sich gefunden hatte und es daher nicht nötig war, dass sie und Luc sich ein Bett teilten. Aber die Worte kamen ihm nicht über die Lippen. Stattdessen packte ihn die kalte Wut, und er riss ihr die Decke weg. Nur mit einem Hemdchen bekleidet zog sie die Knie an sich und schlang beide Arme darum. Ihre grünen Augen glühten matt im Kerzenlicht.

    Er schüttelte den Kopf. »Was muss ein Mann tun, bis Sie ihm endlich vertrauen? Sterben?«
    »Ich vertraue Ihnen.«
    »Und deswegen benehmen Sie sich, als würde ich Sie gleich vergewaltigen.«
    Sie zog sich weiter in die schattige Ecke des Betts zurück und umklammerte die Silberkette, die sie stets um den Hals trug.
    Er selbst hätte nicht erklären können, was über ihn gekommen war. Wenn es Zorn war, dann hatte er ihn bisher nur wenige Male empfunden — während des Kriegs. Er fasste sie an den Handgelenken, zerrte sie nach oben, bis sie vor ihm stand, und riss ihr die Kette vom Hals. Sie blieb stumm. Er sprach leise, so dass seine Worte kaum durch das Dröhnen der Lokomotive drangen. »Wirklich bewundernswert. Sie haben mich jahrelang belogen. Haben die Gekränkte gespielt, weil ich Ihnen so viel verschweige. Und jetzt spielen Sie die kleine gottesfürchtige Jungfrau mit dem Kreuz in der Hand und dem Glauben, dass es Sie schützen wird. Hat Ihnen denn niemand beigebracht, dass eine brave Christin nicht sechs Jahre einem Mann hinterherjagen darf, um ihn zu töten?«
    »Es ist kein Kreuz«, entgegnete sie.
    Er öffnete die Hand. Am Ende der Silberkette hing ein Medaillon.
    »So habe ich seinen Namen erfahren.« Colette fasste nach dem Medaillon und zog die zwei Hälften an einem winzigen Scharnier auseinander, um ein dünnes, ovales Metallplättchen herauszunehmen. »Als wir Mutter gefunden haben, war ihre Faust geballt. Ich habe sie geöffnet, Finger um Finger. Das war darin. Sie hat es dem Mann abgerissen, der ... der sie getötet hat.«

    Younger betrachtete das kleine Oval: die Hundemarke eines Soldaten. Als er es ins Licht hielt, konnte er die eingravierten Buchstaben entziffern: Hans Gruber.
    »Ich habe es jeden Tag getragen«, fuhr sie fort. »Seit 1914. Wenn ich Ihnen die Wahrheit gesagt hätte, hätten Sie mich nach Wien fahren lassen, um ihn aufzuspüren?«
    Er antwortete nicht.
    »Hätten Sie nicht versucht, mich abzuhalten?«
    »Doch.«
    Sie drehte sich zum Abteilfenster um und zog am Riegel. Er bewegte sich nicht. Sie zerrte mit beiden Händen, und schließlich öffnete sich die obere Scheibe. Die vorbeirauschende Nacht blies heftigen Wind herein. Sie sank zurück in seine Arme, und ihr langes schwarzes Haar wehte nach oben, ihm und ihr selbst in die Augen. Er sah die zarte Kontur ihrer Wange und das bebende Strahlen der Augen, die zu ihm aufblickten und im Kerzenlicht flackerten. Er zog sie an sich, so fest, dass ihre Brust gegen seine drückte, und legte die Lippen an ihre. Einen Moment lang spürte er, wie ihr ganzer Körper nachgab, dann stieß sie sich weg, entriss ihm die Hundemarke und schleuderte sie aus dem offenen Fenster. Ohne Spur, ohne Geräusch verschwand sie in der Nacht.
    Dann wandte sie sich wieder ihm zu. Sie zitterte in der kalten Luft, die durch das Abteil wehte, ihr Haar wogte, und auf ihren nackten Schultern fing sich das Licht der Kerze. Er wusste, dass sie sich ihm nicht verweigert hätte. Hätte er sie angefasst, hätte sie es zugelassen. Hatte sie das Gefühl, ihm etwas zu schulden?
    Nach einem kurzen Blick auf den schlafenden Jungen schloss er das Fenster.

    Luc, der nicht schlief, wartete seinerseits auf das unangenehme Geräusch von Küssen und anderen Sachen, die zwischen Erwachsenen üblich waren. Doch nichts passierte. Stattdessen hörte er, wie sich die Tür öffnete und schloss. Younger

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