Todesinstinkt
Littlemore aufbrach, ging bereits die Sonne auf. Die Novemberluft war frisch und belebend, überall roch es nach verbranntem Laub. Littlemore legte die drei Kilometer zu seinem Hotel zu Fuß zurück. Dort angelangt duschte er sich und überlegte, wie er sich in Gegenwart von Minister Houston verhalten und wie er in der Treasury vorgehen sollte. Er blieb lange unter dem dampfenden Wasser.
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I ch glaube, es gefällt Ihnen einfach, mich im Dunkeln tappen zu lassen.« Colette musste die Stimme in dem schwankenden Flugzeug erheben, um das Propellerdröhnen zu übertönen.
Younger hatte ihr nicht näher erklärt, warum er auf einmal nicht mehr nach Bremen, sondern nach Paris wollte, und lediglich erwähnt, dass er Fragen hatte, die vielleicht nur Marie Curie beantworten konnte. Tief unten schlängelte sich die Donau, deren Verlauf der Pilot anscheinend folgte. »Ja, das muss wirklich enttäuschend sein, wo Sie selbst doch immer so ein Ausbund an Offenheit waren.«
Als sie endlich Paris erreichten, zogen sie so dicht an Monsieur Eiffels Turm vorbei, dass sie das Gefühl hatten, ihn zu streifen. Auf dem Flugfeld wärmten sich einige wahllos postierte Maschinen in der Nachmittagssonne, und es gab sogar einen Schalter, doch ansonsten war alles wie ausgestorben. Zuletzt nahm sie der Pilot, ein waschechter Pariser, in seinem wackligen Wagen mit in die Stadtmitte.
Colette deutete begeistert umher, als sie die Brücke zum Trocadéro und dem spektakulären orientalischen Palais überquerten, wo Herren mit Zylindern und Damen mit Sonnenschirmen um still schimmernde Teiche promenierten. Sie beschrieb dem Piloten den Weg zum Radiuminstitut. Dann wandte sie sich an Younger. »Vergessen Sie bitte nicht, dass Madame nicht bei bester Gesundheit ist und
auch nicht mehr so gut sieht.« Colette schüttelte den Kopf. »Mit diesen Gerüchten vor einigen Jahren hätten sie sie fast ins Grab gebracht. Jetzt ist sie der Stolz von Paris, und alle tun, als wäre nichts gewesen.«
V on der Rue Pierre Curie aus betrachtet, hinterließ das Radiuminstitut eher den Eindruck eines komfortablen Bürgerhauses als den einer wissenschaftlichen Einrichtung. Colette schwelgte in Erinnerungen. »Als ich zum ersten Mal durch diese Türen gekommen bin und die Ausrüstung gesehen habe, dachte ich, das muss das größte und beste Laboratorium der Welt sein. Dann habe ich die marmornen Hallen der Naturwissenschaft in Amerika kennengelernt. Ihnen erscheint das alles bestimmt ärmlich.«
Die Ausrüstung des Instituts war tatsächlich von höchster Qualität: Reihen von Elektrometern, Gasbrennern, Glasgefäßen mit gebogenen Hälsen, die alle in gewissenhaft gepflegter Sterilität erglänzten. Nachdem sie ein paar alte Bekannte begrüßt hatte, führte Colette Younger schließlich zur offenen Tür eines Zimmers mit hoher Decke, einem großen Fenster und einem Schreibtisch. In diesem Zimmer stand eine grauhaarige Frau und erteilte einer Assistentin Anweisungen, die behutsam Geräte in eine Kiste packte.
Colette klopfte an die Tür. »Madame?«
Marie Curie drehte sich um und starrte in ihre Richtung. »Wer ist da?«
»Ich bin’s, Madame. Colette.«
»Mein Kind.« Marie Curie strahlte vor Freude. »Kommen Sie. Kommen Sie her zu mir.«
Marie Curie wirkte älter als ihre dreiundfünfzig Jahre. Ihre Oberlippe wurde durchbrochen von senkrechten Fältchen,
ihre Hände waren fleckig, die Fingerspitzen rot. Das graue Haar trug sie in einem festen Knoten. Sie war in ein schlichtes schwarzes Kleid gehüllt, das vom engen Kragen bis zu den langen Ärmeln und dem knapp über dem Boden schwebenden Saum reichte. Ihre Haltung jedoch war gerade und stolz, und ihre klare, reine Stirn brachte eine Gelassenheit zum Ausdruck, die alles menschliche Leid hinter sich ließ.
»Dieser schreckliche graue Star«, setzte Madame Curie hinzu. »Nächsten Monat soll ich operiert werden. Die Ärzte haben mir eine vollständige Heilung versprochen. Lassen Sie sich aus der Nähe anschauen – ach, Sie sehen reizender aus als je zuvor.«
Colette stellte Younger vor und erklärte Madame Curie, dass er ihr einige Fragen stellen wollte, falls sie die Zeit erübrigen konnte.
»Dr. Stratham Younger.« Madame Curie schüttelte ihm die Hand. »Diesen Namen kenne ich. Waren Sie einer der Soldaten, die letztes Jahr bei uns ausgebildet wurden?«
»Nein, Madame, aber ich habe viele Patienten mit Ihren Röntgengeräten in Frankreich behandelt. Amerika steht tief in Ihrer Schuld.«
»Jetzt
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