Todesinstinkt
beiden Männer hatten verrußte Gesichter, schmutziges Haar und zerrissene, angesengte Kleidung.
»Zumindest wäre es Polizeiarbeit«, knurrte Littlemore, »wenn ich noch Polizist wäre.«
21
G edankenverloren wanderte Colette durch die Fabrik, eine große Halle mit hoher Decke, in der sich Reihe um Reihe junger Frauen über lange Tische beugten und mit feinen Pinseln Leuchtfarbe auf die rasiermesserdünnen Zeiger modischer Uhren auftrugen. Zwischen einem Paar hing jeweils eine elektrische Lampe von der Decke und warf grelles Licht auf ihre mühsame Arbeit. Aber das angestrengte Schweigen der Frauen war wahrscheinlich weniger auf ihre Konzentration zurückzuführen als darauf, dass vor wenigen Minuten ihr Chef Mr. Brighton eingetreten war.
Auch Colette trug zu dieser Stille bei. Eine junge Dame mit Diamanthalsband und ellbogenlangen weißen Handschuhen in Begleitung des Fabrikbesitzers war kein üblicher Anblick. Die Arbeiterinnen bedachten sie mit misstrauischen Blicken, als sie zwischen ihnen herumging.
Colette nahm das gar nicht wahr. Sie hatte nur einen Gedanken im Kopf: zehn Gramm Radium. Das würde Madame Curies Leben verändern. Zahllosen Menschen konnte man damit das Leben retten. Wenn diese Menge nicht für Uhren oder Kosmetik verwendet wurde, sondern für wissenschaftliche Zwecke, waren Entdeckungen über die Natur der Atome und Energie möglich, die sich niemand auch nur vorstellen konnte.
Sicherlich war es absurd, dass Mr. Brighton ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte, da er sie doch erst dreimal
gesehen hatte. Oder war es doch nicht so absurd? Dass sie Younger heiraten wollte, hatte sie schon bei der ersten Begegnung mit ihm gewusst, als er den alten französischen Korporal vom Schlachtfeld geschleppt hatte.
Natürlich konnte sie Mr. Brighton nicht heiraten. Dazu war sie nicht verpflichtet, nicht einmal für Madame Curie. Allerdings hatte sie der großen Forscherin alles zu verdanken. Madame Curie hatte sie unter ihre Fittiche genommen, ihr eine Chance an der Sorbonne gegeben und sie gerettet, als sie halb verhungert war. Aber das hieß noch lange nicht, dass Colette ihr Leben und ihr Glück opfern musste — oder?
Immerhin hasste sie Mr. Brighton nicht. Eigentlich war er sogar rührend in seiner Vergesslichkeit und seiner kindlichen Begeisterung. Und großzügig war er auf jeden Fall. Aber ihn zu heiraten würde sie furchtbar unglücklich machen. Sie würde vor Elend umkommen. Nein, sie würde nicht sterben. Und was zählte schon ihr Glück gegen das Leben der vielen Menschen, die gerettet werden konnten, gegen den möglichen wissenschaftlichen Fortschritt? Welches Recht hatte sie, Nein zu sagen und ihr eigenes Leben zu führen, wenn Millionen junger Männer im Krieg nicht nur ihr Glück, sondern sogar ihr Leben gegeben hatten?
»Nicht, Miss«, sagte jemand neben ihr.
»Pardon?«
»Lehnen Sie sich da nicht an«, fügte die Arbeiterin hinzu. »Das ist das Licht für die ganze Fabrik. Wir haben hier zu tun. Wollen Sie, dass wir alle im Dunkeln sitzen?«
Colette blickte hinter sich. An der Wand befand sich ein Metallhebel mit rotem Holzgriff – ein Hauptschalter, den sie beinah aus Versehen umgelegt hätte. Als sie sich wieder
umdrehte, merkte Colette, dass alle Frauen sie anstarrten, und zwar nicht unbedingt wohlwollend. Mehrere hatten Kaugummi im Mund. Eine oder zwei wischten sich mit einem fleckigen Handgelenk die Haare aus den Augen, um Colettes schlanke Arme und ihren diamantenstrahlenden Hals besser sehen zu können. Die Arbeiterin, die sie angesprochen hatte, schien sich am wenigsten für sie zu interessieren. Sie wandte sich wieder ihrem Werk zu und schnitt mit den gekrümmten Klingen einer Schere ein abstehendes Haar von ihrem Pinsel. Dann tauchte sie den Pinsel in eine Schale mit grüner Farbe, schob ihn zwischen die Lippen und zog ihn fein gespitzt wieder heraus.
»Nein! «, rief Colette.
»Meinen Sie mich?«
»Das dürfen Sie nicht in den Mund nehmen«, sagte Colette erregt.
»So wird es uns beigebracht, Schätzchen«, antwortete die Frau. »Der Pinsel wird mit dem Mund gespitzt. Tut mir leid, wenn Ihnen das zu unvornehm ist.«
Colette bemerkte jetzt, dass die Arbeiterinnen ihre Pinsel alle zwischen die Lippen steckten. »Wo sind Ihre Handschuhe? Bekommen Sie denn keine Schutzhandschuhe?«
»Handschuhe hat hier nur eine«, entgegnete die Arbeiterin.
Plötzlich schrillte eine laute Glocke. Die Frauen sprangen von ihren Stühlen auf. Fröhlich plaudernd und lachend räumten
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