Todesinstinkt
Flucht aus der Radiumfabrik, die Jagd auf sie und der Versuch der Kontaktaufnahme mit Colette ist frei erfunden.) Als erste der Leuchtziffernmalerinnen starb Amelia 1922 nachweislich an einer Radiumvergiftung. Als ihre Leiche 1927 exhumiert wurde, war sie noch immer radioaktiv. Mitte der zwanziger Jahre wurde US Radium von einer Handvoll Frauen verklagt, unter anderem von Quinta und Albina, doch das Gesetz meinte es nicht gut mit ihnen. Im Jahr 1927 erhielt die unheilbar kranke Quinta eine bescheidene Barzahlung und eine geradezu enorme lebenslange Rente von sechshundert Dollar. Knapp zwei Jahre später starb sie. Albina lebte bis 1946.
Offensichtlich unterdrückte oder verfälschte das Unternehmen einen Bericht, der zeigte, dass das Direktorium von den Gefahren des Radiums für die Arbeiterinnen wusste. Ein medizinischer Spezialist von der Columbia University nahm Untersuchungen an den beschwerdeführenden Frauen vor und gelangte zu dem Schluss, dass sie sich entweder bester Gesundheit erfreuten oder dass ihre Symptome auf Syphilis oder andere Krankheiten ohne Bezug zu ihrer Arbeit zurückzuführen seien. Allerdings ließ der besagte Spezialist, Frederick Flynn, dabei unerwähnt, dass er gar kein Arzt war und von US Radium bezahlt wurde. Im Roman lässt sich Frederick Lyme ein ähnliches Fehlverhalten
zuschulden kommen, doch seine weiteren Schandtaten sind imaginär.
Die Theorie des Todestriebs formulierte Sigmund Freud zum ersten Mal in einem 1920 veröffentlichten kurzen Text mit dem Titel Jenseits des Lustprinzips . Als Inbegriff reiner Aggression, als eine Art Lust am Töten und Zerstören, könnte der Todestrieb das Gute im Menschen infrage stellen, ist aber ansonsten ohne weiteres verständlich. Freud behauptete jedoch, dass dieser Trieb ursprünglich und grundsätzlich auf die Vernichtung des eigenen Selbst zielt. Aus diesem Grund ist seine Auffassung sehr viel schwieriger und umstrittener, obwohl Selbstzerstörung als Phänomen fast genauso vertraut ist wie Aggression.
Im Großen und Ganzen hat die psychoanalytische Gemeinde nach Freud den Todestrieb entweder ganz vergessen oder seine Bedeutung heruntergespielt. Eine wesentliche Ausnahme war Melanie Klein; ebenso Jacques Lacan, der den Todestrieb als zentrales Element der Psychoanalyse betrachtete, ihn aber von den biologischen Wurzeln lösen wollte, die Freud konstatiert hatte. Gleichfalls eine Ausnahme ist der französische Psychoanalytiker André Green, der in seinem ausgezeichneten jüngsten Buch über den Todestrieb — Pourquoi les pulsions de destruction ou de mort? (Éditions du Panama, 2007) — Freuds Theorie allerdings ausdrücklich mit der Apoptose verknüpft, dem biologischen Prozess des »programmierten Zelltods« oder »Zellenselbstmords«. Zweifellos ein wenig anachronistisch lasse ich Freud in einem Gespräch mit Colette den gleichen Zusammenhang herstellen. Die Apoptose war der Wissenschaft zwar schon seit dem späten neunzehnten Jahrhundert bekannt (damals unter dem Begriff »Chromatolyse«), doch
ihre Verbindung zum Krebs wurde erst Ende des zwanzigsten Jahrhunderts nachgewiesen.
Leser, die mit Freuds Werk vertraut sind, werden das berühmte Fort-da-Spiel aus Jenseits des Lustprinzips wiedererkennen. Der Junge, dessen Spiel in Freuds Abhandlung beschrieben wird, wurde inzwischen als Freuds Enkel Ernst identifiziert; seine Mutter war Sophie, über deren Tod Freud 1920 so tief trauerte. An einer anderen Stelle in meinem Buch schlüpft Luc abermals in die Rolle eines Freud-Enkels. Die Anekdote über Freud, Luc und den Bettler, der einen epileptischen Anfall vortäuscht, hat mir Clement Freud, der Bruder des Malers Lucian Freud, erzählt, und sie erscheint auch in Sir Clements Autobiografie Freud Ego.
Die erstaunliche Geschichte, in der Freud korrekt erschließt, dass eine Patientin im Alter von ungefähr vier Jahren eine Affäre zwischen ihrem Kindermädchen und dem Stallburschen beobachtet hat, ist völlig wahr oder wird zumindest von der Patientin, Prinzessin Marie Bonaparte, bestätigt. Freilich erscheint die Geschichte in meinem Buch zeitlich verfrüht, da Prinzessin Maries Behandlung bei Freud erst 1925 begann. Wie in Morddeutung gehen viele von Freuds Aussagen in Todesinstinkt auf seine Schriften zurück. Zwar wird Freuds Todestrieb heute üblicherweise als Thanatos bezeichnet (nach einer griechischen Gottheit), doch Freud selbst hat diesen Namen in seinem Werk nicht verwendet, und daher taucht er auch in meinem Roman nicht auf.
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