Todesinstinkt
das Geschenk und zog zum Austausch seinerseits etwas aus der Tasche.
Die Augenbraue des Arztes zuckte nach oben. »Eine Granate.«
Luc nickte.
»Die ist aber nicht scharf, oder?«
Nachdem er das Glas abgestellt hatte, drückte Luc den Sicherungsstift, schraubte den Deckel ab, zog die Feder heraus, entfernte den Stift, löste den Zündkörper und hielt ihn in die Luft.
Younger beugte sich vor und roch das trockene Schießpulver. »Aha. Ausgezeichnet. Tatsächlich scharf.«
Mit geschickten Fingern baute der Junge die Granate wieder
zusammen und hielt sie Younger hin, der das Geschenk vorsichtig entgegennahm.
Als er sich bei Luc bedankte, hörte er plötzlich hinter sich eine strenge Frauenstimme.
»Haben Sie ihn das anfassen lassen?«
Younger drehte sich um und erkannte die Schwester des Jungen.
»Wollen Sie, dass er Granaten für Spielzeug hält?«, fuhr sie ihn zornig an. »Damit er sie das nächste Mal, wenn er eine auf dem Boden entdeckt, aufhebt und damit herumspielt?«
Younger schielte kurz zu Luc, dessen Schwester offenbar keine Ahnung hatte, dass er eine scharfe Granate mit sich herumtrug. »Sie haben Recht, Mademoiselle.« Younger steckte die Waffe ein. »Wo habe ich nur meinen Kopf. Eine Granate ist kein Spielzeug. Verstanden, Luc? So etwas sollte man nur berühren, wenn man genau über die Funktionsweise Bescheid weiß.«
»Verzeihung.« Sie schien sich wieder zu beruhigen. »Er spielt gern mit Waffen und Muniton. Ich stehe jedes Mal Todesängste aus.«
»Wie ich gehört habe, sind Sie nach Paris zurückgegangen. «
Sie runzelte die Stirn. Da zupfte Luc an ihrem Rock. Mit einer entschuldigenden Geste beugte sie sich zu ihm hinunter, und der Junge gestikulierte in einer Art Zeichensprache. Ihre Antwort klang entschieden. »Auf keinen Fall. Wie stellst du dir das vor?« Für Younger fügte sie erklärend hinzu: »Jetzt will er mit Ihnen an die Front.«
»Ich fürchte, in deinem Alter ist das unmöglich, junger Mann. Wenn der Krieg allerdings weiter so verläuft, bekommst
du womöglich noch deine Chance. Aber vielleicht möchtest du einen amerikanischen Stützpunkt sehen?«
Der Junge nickte.
Younger wandte sich wieder der Frau zu. »Sie würden uns einen großen Dienst erweisen, wenn Sie mit Ihrem Lastwagen zu unserem Stützpunkt kämen. Wir haben zwar einen Röntgenapparat, aber er ist sehr primitiv im Vergleich zu Ihrem. Ich könnte vielen Verletzten helfen.«
»In Ordnung«, antwortete sie. »Ich komme heute Nachmittag. Aber ich ... ich weiß noch immer nicht, wie Sie heißen. «
A n mehreren Abenden nacheinander polterte Colettes Lastwagen eine Staubwolke hinter sich herziehend in Youngers Feldlazarett. Younger nahm neben ihr Platz, und sie brachen zu verschiedenen Lagern auf, bis hinüber nach Lucy-le-Bocage. Dutzende von Soldaten waren nach einer Verletzung zu ihren Einheiten zurückgekehrt, ohne wirklich genesen zu sein. Younger wollte sie alle noch einmal untersuchen. Meistens förderten die Röntgenaufnahmen nichts zutage, doch hin und wieder zeigten die gespenstischen Skelette, wie Younger es vermutet hatte, einen winzigen, bisher unentdeckten Granatsplitter.
Als dies zum ersten Mal geschah, stieß Colette einen Freudenschrei aus. Younger lächelte. Wenn sie hinten im Lastwagen eng nebeneinander arbeiteten und Instrumente hin- und herreichten, berührten ihre Finger oft die seinen. Oder ihr Körper streifte ihn. Immer wenn das der Fall war, löste sie sich sogleich wieder von ihm, obwohl Younger das Gefühl hatte, dass der Kontakt nicht ganz unabsichtlich zustande gekommen war.
Gegen die Verletzten und Kranken war Colette freundlich, aber nicht übertrieben sanft oder mitfühlend. Gegen die Gesunden war sie abweisend. Zum Teil diente diese Schroffheit, wie Younger erkannte, dem Selbstschutz; sie war so hübsch, dass sie gar nicht anders mit den Soldaten umgehen konnte. Aber das war nicht alles. Younger fragte sich, was wohl nötig wäre, um sie zu erweichen.
A ls Colette eines Abends mit ihren Berechnungen beschäftigt war, nutzte der Arzt die Zeit, um selbst im Licht einer Taschenlampe an Gleichungen zu arbeiten. Erst nach einer Weile fiel ihm auf, dass Luc neben ihm stand.
Der Junge reichte ihm ein Buch. Es war auf Englisch, im Vorjahr veröffentlicht. Der Autor war ein gewisser Arnold Toynbee, und der Titel lautete: The German Terror in France. Der schmale Band war ziemlich zerlesen. War es möglich, dass der Junge Englisch konnte?
Während Younger noch in dem Buch
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