Todesinstinkt
dabei eine dritte Möglichkeit, zu der eine ganze Reihe von Patienten griff: Selbstmord.
In der Tat vermochten selbst diese starken Abschreckungsmaßnahmen der Entwicklung nicht Einhalt zu gebieten. Die Zahl der Betroffenen stieg in schwindelerregende Höhen. In Großbritannien wurde das mysteriöse Leiden letztlich bei achtzigtausend Soldaten diagnostiziert. Viele davon waren Offiziere mit – nach britischer Auffassung – tadellosem Charakter und Stammbaum. Daher geriet die Simulantenthese allmählich selbst unter Beschuss.
Die ersten Ärzte, die die Beschwerden ernst nahmen, führten sie auf explodierende Geschosse zurück. Ihrer Auffassung nach lösten die starken Granatdetonationen der modernen Kriegsführung winzige Blutungen und damit einen neurologischen Schock im Gehirn aus. So entstand der Begriff »Granatenschock».
Der Name blieb, nicht aber die Erklärung. Zu viele unter Granatenschock leidende Soldaten hatten überhaupt kein
Bombardement erlebt. Bald zeigte sich, dass die Psychologie für ihren Zustand viel größere Bedeutung besaß als die Physiologie. Und nur ein einziger Psychiater auf dem gesamten Erdball hatte eine Theorie geistiger Erkrankungen vorgelegt, die diese Symptome erklären konnte: Sigmund Freud.
Auf der ganzen Welt sah sich eine wachsende Zahl von Ärzten, die die Psychoanalyse bis dahin voller Skepsis und Verachtung beäugt hatten, zu der Einsicht genötigt, dass nur das Freud’sche Konzept des Unbewussten eine sinnvolle Behandlung des Granatenschocks erlaubte. So schrieb ein britischer Arzt 1917: »Fast möchte man sagen, dass uns das Schicksal die einmalige Gelegenheit geboten hat, den Wahrheitsgehalt von Freuds Theorie des Unbewussten zu überprüfen. « Die Theorie bestand die Prüfung.
Englische, australische, französische und deutsche Ärzte berichteten von erstaunlichen Erfolgen bei der psychotherapeutischen Betreuung von Granatenschockopfern. In Großbritannien wandten sich die Militärbehörden an Dr. Ernest Jones, einen von Freuds ersten Schülern — der aufgrund seiner Neigung, mit zwölfjährigen Mädchen über Unschickliches zu reden, noch immer nicht in Krankenhäusern praktizieren durfte –, um dem nun unter dem Namen »Kriegsneurose« bekannten Leiden zu begegnen. Deutschland sandte eine Abordnung zu einem internationalen psychoanalytischen Kongress und bat um Hilfe, um der wachsenden Zahl einschlägig Erkrankter Herr zu werden. Der lange verleumdete und geächtete Freud wurde persönlich von der österreichischen Regierung gebeten, eine Untersuchung zur angemessenen Behandlung von Granatenschock zu leiten. Im Jahr 1918 gab es wohl nur einen Menschen, der
von der Richtigkeit der Psychoanalyse überzeugt und zugleich der Meinung war, dass sich die Freud’sche Theorie nicht zur Erklärung der Kriegsneurose eignete. Dieser Mensch war Sigmund Freud.
E r müsste eigentlich in die Schule gehen«, sagte Colette einige Tage später über ihren Bruder. Sie saß am Steuer ihres Lieferwagens und lenkte ihn über eine tief zerfurchte Straße. Sie hatte keine Bedenken, in Lucs Hörweite über ihn zu reden. »Aber er ist zu ... unkooperativ. Die Lehrer in Paris dachten, dass er taub ist. Und dass er nicht sprechen kann. Aber er kann es, das weiß ich.«
Hinten im Wagen war Luc wieder mit seinem Lieblingsspielzeug beschäftigt – einer alten Angelrolle – und gab dabei unverständliche Laute von sich.
»Wie lang ist er schon so?«, fragte Younger.
»Nach der Zerstörung von Sommeilles war überall Rauch. Sogar bis in den Keller des Zimmermanns ist er vorgedrungen, aber Luc wollte nicht herauskommen. Den ganzen Tag hat er dort gelegen. Dann hat er sich eine Erkältung zugezogen, und am Abend fing er an zu husten — ganz schlimm. Ich dachte schon, dass ich ihn auch noch verliere. Aber er wurde wieder gesund; nur spricht er seit damals nicht mehr.«
»Hat er manchmal Probleme beim Atmen — zum Beispiel, wenn er läuft?«
»Nie«, erwiderte Colette. »Alle meinen, er muss eine Lungenentzündung gehabt haben, aber das glaube ich nicht. Für mich ist es eher etwas Psychologisches. Vielleicht eine ›Neurose‹. Haben Sie schon mal von Dr. Freud in Wien gehört?«
»Bei dem Wegweiser links.« Youngers Gesicht blieb ausdruckslos.
»Ein Psychologe, weltberühmt. Alle behaupten, er ist der Einzige, der Kriegsneurosen versteht. Und er behandelt auch Kinder.«
»Dr. Freud aus Wien hat eine eigenartige Theorie zur Ursache von Neurosen.«
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