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Todesinstinkt

Todesinstinkt

Titel: Todesinstinkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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blätterte, gab ihm Luc einen Zettel, auf dem stand, dass er die Toten hasste. Es war das erste Mal, dass ihm der Junge etwas mitgeteilt hatte. Danach hockte sich Luc an einen Reifen des Lastwagens und beschäftigte sich mit einem alten Spielzeug.
    »Wo haben Sie das her?« Colette hatte das Buch in Youngers Händen entdeckt.
    »Von Ihrem Bruder.«
    »Oh.« Ihre Haltung entspannte sich. »Er will offenbar, dass ich Ihnen erzähle, was mit unserer Familie passiert ist.«
    »Das müssen Sie nicht.«
    Ihr Blick ging kurz zu Luc, der in sein Spiel vertieft war. »Sie können es auch nachlesen, wenn Sie wollen.« Sie zeigte
auf eine eselsohrige Seite im Buch, wo eine Passage unterstrichen war.
    Sommeilles wurde am 6. September völlig niedergebrannt. »Nach Beginn des Feuers«, berichtet der Bürgermeister, »flüchteten sich M. und Mme. Adnot (Letztere ungefähr sechzig Jahre alt), Mme. X. ( fünf- oder sechsunddreißig Jahre alt), deren Mann beim französischen Heer war, und Mme. X’ vier Kinder in den Keller der Adnots. Sie wurden unter grausigen Umständen ermordet. Die beiden Frauen wurden vergewaltigt. Als die Kinder schrien, wurde einem von ihnen der Kopf und zwei anderen ein Arm abgeschnitten, ehe alle im Keller massakriert wurden. Die Kinder waren elf, fünf, vier und eineinhalb Jahre alt.
    »Großer Gott«, entfuhr es Younger. »Ich hoffe, das war nicht Ihre Familie.«
    »Nein, aber unser Dorf: Sommeilles. Wir sind dort hingezogen, als ich noch klein war — Mutter, Vater, Großmutter und ich. Luc ist dort geboren. Bei Kriegsausbruch haben sich all unsere jungen Männer dem Heer angeschlossen. Das Dorf war völlig wehrlos. Als die Deutschen kamen, wurden Luc und ich zum Zimmermann geschickt, weil er einen verborgenen Keller hatte. Deswegen haben wir überlebt. Die Deutschen haben alle umgebracht, nur uns haben sie nicht entdeckt. Die ganze Nacht haben wir Schüsse und Schreie gehört. Am nächsten Tag waren sie verschwunden. Unser Haus war angezündet worden, aber es stand noch. Mutter und Vater lagen tot auf dem Boden. Vater hatte sich heldenhaft gewehrt, das konnte man sehen. Großmutter hat noch gelebt, aber nicht lange. Mutter war nackt. Überall war Blut.«

    Während seine Schwester erzählte, hatte Luc sein Spiel unterbrochen. Erst als sie fertig war, wandte er sich wieder seiner Beschäftigung zu.
    »Und alle gehen davon aus«, schloss Colette, »dass man den Rest des Lebens trauern muss.«

6
    M it dem Großen Krieg kamen die großen Krankheiten – Beschwerden einer völlig neuen Art oder in einem noch nie dagewesenen Ausmaß.
    Ganz zuletzt das Schlimmste: die Spanische Grippe von 1918 bis 1919, die sich mit den herumziehenden Armeen auf allen Kontinenten verbreitete, verborgen in den warmen, aber zerrütteten Lungen heimkehrender Soldaten, und Millionen Menschen in allen Winkeln der Erde das Leben kostete. Vor der Grippe lagen die Leiden durch Phosgen und Senfgas, das einem Mann die Augen und das Fleisch bis auf die Knochen wegätzen konnte. Noch vor dem Giftgas gab es die abstoßenden Auswirkungen von Pilzen und Parasiten, die die Füße der Soldaten angriffen, und den Wundbrand, der sich in abflusslosen, regenüberschwemmten Schützengräben vermehrte. Doch vor all diesen Dingen kam der Granatenschock.
    Die ersten Berichte über diesen sonderbaren Zustand waren rätselhaft. Offenkundig unverletzte Soldaten zeigten eine Ansammlung widersprüchlicher Symptome: hechelnde und versagende Atmung, Schweigen und Raserei, übertriebener Bewegungsdrang und Katatonie, die Weigerung, Waffen loszulassen oder sie anzufassen. Aber in allen Fällen traten Nachtangst und starke Alpträume auf, mit denen sie ihre Kameraden aus dem Schlaf rissen und beunruhigten.
    In der Folge wurden die Symptome noch merkwürdiger.
Taubheit, Stummheit, Blindheit, Lähmung von Armen und Beinen. Alles ohne erkennbare organische Ursache.
    Die Franzosen fanden schnell einen Namen für die Betroffenen: simulateurs. Bei den Briten hieß der entsprechende Begriff malingerers . Die erste Behandlung, die die Engländer diesen »Simulanten« verordnete, war das Erschießungskommando, da Feigheit in der britischen Armee mit dem Tod bestraft wurde. Deutsche Ärzte hingegen setzten auf Elektrizität. Hinter dieser Elektroschocktherapie stand nicht unbedingt eine Heilabsicht, sondern der Gedanke, dass eine ausreichend hohe Spannung die Rückkehr an die Front als das geringere Übel erscheinen ließ. Allerdings übersahen die deutschen Ärzte

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