Todesinstinkt
ließ die Erde unter ihren Füßen sanft erzittern, und weit weg in den Wäldern brach ein Feuersturm los.
»Haben Sie keine Angst?«, fragte Younger.
»Vor dem Krieg?«
»Davor, dass Sie hier mit einem Fremden allein sind.«
»Nein.«
»Sie sind vertrauensvoll.«
»Männern vertraue ich nie«, erklärte sie. »Deswegen habe ich keine Angst vor ihnen.«
»Klingt vernünftig.« Younger hob den Blick zum blinkenden Firmament. »Heute habe ich etwas erlebt, was ich nie
vergessen werde. Ein amerikanischer Marine-Sergeant hat seine Leute aus einem Schützengraben gescheucht. Sie hatten eine Überzahl von Soldaten und Waffen gegen sich, aber er hat den Befehl zum Angriff gegeben. Seine Marines hatten zu große Angst, um herauszukommen. Da hat der Sergeant sie angeschnauzt. Nun, er hat einen Ausdruck benutzt, den man in Damengesellschaft nicht wiederholen sollte. Wollen Sie es trotzdem hören?«
»Machen Sie Witze?«
»›Kommt schon, ihr Hurensöhne‹, hat der Sergeant gebrüllt, ›wollt ihr ewig leben?‹ Da sind seine Männer herausgestürmt. Es war ein Blutbad.«
»Hat er es überlebt, der Sergeant?«
»Ja.«
Ein gellendes Heulen zerriss die Nacht, gefolgt von einer weiteren Explosion, diesmal viel näher. Der Boden bebte, und in vielleicht tausend Metern Entfernung schossen Flammen hoch.
»Machen Sie sich lieber auf den Weg«, mahnte Younger. »Heute Nacht noch. Wenn die Deutschen durchbrechen, sind sie vor dem Morgen hier. Und sie werden bestimmt anders mit einer Französin umspringen als Ihre Soldaten.«
Sie schwieg.
Younger schnallte sich seine Ausrüstung um und marschierte zurück in die Wälder — in Richtung der Explosionen.
E rst im Juli 1918 sah er sie wieder. Deutschland hatte eine Reihe massiver Offensiven in Frankreich begonnen, um noch vor der vollen Mobilisierung der Vereinigten Staaten den Sieg zu erzwingen. Hunderttausende erfahrene deutsche
Soldaten strömten aus dem Osten heran, wo die neuen bolschewistischen Herrscher Russlands kapituliert hatten, so dass der Kaiser seine Truppen von der Ostfront abziehen konnte. Ende Mai hatte Deutschland die französischen Streitkräfte bis zur Marne zurückgeschlagen und stand damit nur noch achtzig Kilometer vor Paris.
Doch in Belleau, Vaux und Château-Thierry stellten sich die Amerikaner dem deutschen Vormarsch entgegen und stürzten sich mit einem Todesmut in die Schlacht, wie er bei den alliierten Truppen seit 1914 nicht mehr zu beobachten gewesen war. Mit wilden Übertreibungen feierten US-Zeitungen die Siege der Yankees. Die Frage war nun, ob die neue Frontlinie zu halten war.
Vierzig Tage lang warfen beide Seiten Welle um Welle an Feuerkraft und jungen Männern in den grausamen, immer noch unentschiedenen Kampf. Langsam kamen die Gefechte zum Erliegen, bis man sich auf gelegentliche wütende Granatenangriffe aus gut befestigten Schützengräben beschränkte. Schließlich trat eine unheilvolle Pause ein. Anscheinend verstärkten die Deutschen ihre Verbände mit weiteren Divisionen.
Während dieser Ruhe vor dem Sturm war in dem Dorf Crézancy, unter dem Schatten der riesigen, schimmernden Geschütze hoch oben auf dem Moulin ruiné, ein Gemüsemarkt von zweifelhafter Legalität entstanden. Dort verkauften gebeugte, runzlige französische Bauern die kärglichen Waren, die sie vor der staatlichen Requirierung hatten bewahren können.
Zuerst bemerkte Younger Luc. Sofort erkannte er den kleinen Jungen wieder, der soeben eine maßlose Forderung mit einem stummen Kopfschütteln ablehnte und erst dann
für Milch und Käse bezahlte, als ihm ein annehmbarer Preis angeboten wurde. Younger begrüßte den Jungen voller Herzlichkeit. Einer Eingebung folgend zog er ein verschlossenes, mit kriechenden Maden gefülltes Glas aus der Tasche. Luc riss die Augen auf.
»Das sind Larven«, erklärte Younger auf Französisch. »Bald werden sich diese Tierchen alle in einen Kokon hüllen. Ein oder zwei Wochen später wird der Kokon platzen. Und weißt du, was dann herauskrabbelt?«
Der Junge schüttelte den Kopf.
»Eine Fliege. Eine gewöhnliche Schmeißfliege.«
Diese Information schien den großen Respekt des Jungen vor der wimmelnden Masse im Glas noch zu steigern.
»Und willst du erfahren, warum sie so gute Freunde für Verletzte sind? Weil sie nur totes Gewebe fressen. Lebende Zellen üben keinerlei Anziehung auf sie aus. Hier, nimm das Glas. Ich hab noch mehr davon. Maden als Haustiere – das kann nicht jeder Junge vorweisen.«
Luc akzeptierte
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