Todesinstinkt
Colettes Schuhen fernzuhalten. Der Chow-Chow gehorchte.
»Nun, mein Junge«, begann Freud ohne Einleitung, »Sie sind also kein Psychoanalytiker mehr?«
Freud trug einen Anzug mit Weste und Krawatte. In der linken, leicht erhobenen Hand klemmte eine Zigarre zwischen zwei Fingern. Er war gealtert, seit Younger ihn zuletzt gesehen hatte. Sein graues Haar war dünn geworden und zurückgewichen, der kurze Spitzbart vollkommen weiß. Dennoch, für seine dreiundsechzig Jahre sah er noch immer gut aus; er wirkte gesund und kräftig, und seine Augen waren genau so, wie Younger sie in Erinnerung hatte: zugleich durchdringend und mitfühlend, mürrisch und amüsiert.
»Mademoiselle Rousseau, darf ich Ihnen Dr. Sigmund Freud vorstellen? Dr. Freud, ich dachte, Sie möchten vielleicht zuerst mit Mademoiselle Rousseau sprechen, bevor Sie den Jungen kennenlernen.«
»Sehr erfreut, mein Fräulein.« Freud wandte sich wieder an Younger. »Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«
»Ich praktiziere überhaupt nicht mehr als Psychologe.«
»Sie waren Psychoanalytiker?«, fragte Colette.
»Habe ich das nicht erwähnt?«
»Er hat Ihnen nie erzählt, dass er einmal mein verheißungsvollster Schüler in Amerika war?«, warf Freud ein.
»Nein.«
»Natürlich«, konstatierte Freud. »Als wir uns zum ersten Mal begegnet sind, hat Younger unter meiner Aufsicht eine Analyse durchgeführt — die Patientin wurde später seine Frau.«
»Aha«, bemerkte Colette. »Natürlich.«
Younger schwieg.
»Auch von seiner Ehe hat er Ihnen nichts erzählt?«
Colette lief rot an. »Er erzählt mir nichts von sich.«
»Ich verstehe. Nun, er ist nicht mehr verheiratet, falls dieses Thema von Interesse ist. Hat er Ihnen wenigstens erklärt, woraus eine Analyse besteht?«
»Nein, auch nicht.«
»Dann sollte ich das wohl tun. Nehmen Sie doch bitte Platz.« Freud warf Younger einen kurzen Blick zu. Dann rief er nach dem Dienstmädchen und bat sie, Tee zu bringen, ehe er sich auf einem bequemen Sessel niederließ. »Sie sind Wissenschaftlerin, Fräulein Rousseau?«
»Ich studiere noch. Radiochemie. Nächste Woche trete ich eine Stelle an Madame Curies Institut an.«
»Aha. Schön. Als Wissenschaftlerin werden Sie gewiss keine Mühe haben, meinen Ausführungen zu folgen. Bei der Analyse eines Kindes haben wir die Notwendigkeit erkannt, die Eltern oder Erziehungsberechtigten im Voraus über unsere
Arbeit zu informieren. Daher hat Younger mir Gelegenheit gegeben, zunächst mit Ihnen zu sprechen.«
Younger und Colette hatten Luc im Hotel gelassen. Paula, das Dienstmädchen der Freuds, trat mit einem Teeservice ein.
»Alle Neurosen«, fuhr Freud fort, während das Dienstmädchen ihnen einschenkte, »haben ihre Ursache in Erinnerungen, meist einer lang zurückliegenden Erinnerung, die sich um einen verbotenen Wunsch dreht. Die Wünsche, unter denen Neurotiker leiden, treten keinesfalls nur bei ihnen auf. Wir alle hatten sie in unserer Kindheit, aber bei Neurotikern verhindert etwas, dass diese Erinnerungen vergessen und in der gewöhnlichen Weise aus der Welt geschafft werden. Sie haften in geheimen Winkeln des Gedächtnisses, so verborgen, dass meine Patienten sich ihrer zunächst gar nicht bewusst sind. Das Ziel der Analyse ist, dem Patienten diese verdrängten Erinnerungen bewusst zu machen.«
»Um sie zu vergessen?«, fragte Colette.
»Um sich von ihnen zu befreien«, erwiderte Freud. »Doch dieser Prozess ist nur selten leicht, weil es oft recht schwer ist, die Wahrheit zu akzeptieren. Der Patient — und die Familie des Patienten – wehren sich unweigerlich gegen unsere Deutungen, und zwar mit großer Kraft. Möglicherweise mit gutem Grund. Denn wenn die Wahrheit herauskommt, kann das eine unwiderrufliche Veränderung der Familie hervorrufen.«
Colette runzelte die Stirn. »Der Familie?«
»Ja. Oft ist dies sogar das entscheidende Signal dafür, dass wir zur Wahrheit vorgedrungen sind: wenn die Familie des Patienten plötzlich den Abbruch der Analyse fordert.
Allerdings gibt es gelegentlich auch andere, stärkere Beweise. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Ich habe eine Patientin – eine geborene Französin wie Sie – aus einer angesehenen, vermögenden Familie. Sie leidet unter Frigidität.«
Younger rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Die sexuelle Unzweideutigkeit der Psychoanalyse gehörte zu den Hauptgründen, weshalb er mit Colette nicht darüber hatte reden wollen.
Freud sprach weiter. »Bei einer ihrer ersten Sitzungen
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